Die Hardware des Grossen Bruders

Geschrieben am 07.06.2019 von

Vor siebzig Jahren, am 8. Juni 1949, veröffentlichte der Londoner Verlag Secker & Warburg den Roman „Nineteen Eighty-Four“ von George Orwell. Bei uns trug er den Titel „1984“. Die düstere Utopie schildert einen totalen Überwachungsstaat, regiert vom anonymen Großen Bruder. Wie sieht aber die Informationstechnik aus, die dem Super-Diktator und seiner Gedankenpolizei zur Verfügung steht?  

Es war ein klarer kalter Tag im April, und die Uhren schlugen dreizehn… – so beginnt eines der einflussreichsten Bücher der Weltliteratur. Es brachte uns die Unperson, den Großen Bruder, die Gedankenpolizei und die Neusprache; sein Titel wurde sprichwörtlich: 1984

Das Buch, im Original „Nineteen Eighty-Four“, erschien am 8. Juni 1949 in London; es stammte von George Orwell. Geboren wurde er am 25. Juni 1903 als Eric Blair in Indien; sein Vater war Kolonialbeamter. Eric absolvierte in England das Internat Eton; danach arbeitete er als Polizist in Myanmar. In den 1920er-Jahren hieß das Land Birma und gehörte ebenfalls zum britischen Weltreich. 1927 gab Eric Blair den Polizeidienst auf, kehrte nach England zurück und verdiente sein Geld mit Schreiben. Ab 1933 nannte er sich George Orwell.

Von 1941 bis 1943 arbeitete Orwell in der Asienabteilung der BBC.

Orwell stand politisch links, sah aber den realen Sozialismus höchst kritisch. Das drückte er 1945 im Kurzroman „Animal Farm“ aus, der sein erster großer Erfolg wurde. Die Fabel von der Farm der Tiere ist eine Abrechnung mit der Sowjetunion. Eine Steigerung brachte die Utopie „1984“. George Orwell schrieb sie vom Mai 1946 bis November 1948 auf der schottischen Insel Jura. Er erlebte noch die Publikation und den beginnenden Welterfolg des Romans. Am 21. Januar 1950 erlag er nach jahrelangem Kampf der Lungentuberkulose.

„1984“ schildert das Leben von Winston Smith in London. Er ist ein kleiner Angestellter im Wahrheitsministerium des Zukunftsstaats Ozeanien und passt ältere Zeitungsartikel der gerade gültigen Realität an. Diese legt der Große Bruder fest, der überall im Bild präsente Diktator. Eine Zeitlang glaubt Winston an die Existenz einer oppositionellen Bewegung, doch dann werden er und seine Freundin von der Gedankenpolizei ergriffen. Brutale Folterungen verwandeln ihn in einen anderen Menschen. Am Ende liebt er den Großen Bruder.

Orwells Roman wurde oft als Prophetie eines ausgeklügelten Überwachungsstaats gedeutet. Ganz besonders galt das in den Achtzigern mit dem näher rückenden Orwell-Jahr 1984. Am 3. Januar 1983 zierte der Orwell-Staat das Cover des SPIEGEL. Immer mehr Computer und immer größere Datenbanken weckten Ängste vor einer digitalen Diktatur. Die für 1983 geplante Volkszählung – wir berichteten im Blog – gelang erst 1987. Computergeschichte machte im Januar 1984 der Orwell-inspirierte Werbespot für den Apple Macintosh.

Eine Rohrpostanlage wie im Wahrheitsministerium gab es 1959 auch in Ost-Berlin (Bundesarchiv, Bild 183-61662-0003 / Mihatsch / CC-BY-SA 3.0)

Auf den Seiten von „1984“ finden wir keine Computer, doch Überwachungstechnik, allen voran den Televisor. Der Großbildfernseher mit Beobachtungs- und Lauschfunktion läuft rund um die Uhr in jeder Wohnung; nur die Funktionäre der Staatspartei können ihr Gerät gelegentlich abschalten. In der freien Natur sind außerdem Mikrofone versteckt. Telefone, die abgehört werden könnten, gibt es allerdings keine. Es gibt auch keine Radios; der Unterhaltung dienen Kinofilme, Theaterstücke und Lieder, die sich im Volk verbreiten.

Die Feinde des Großen Bruders werden eher mit traditionellen Techniken verfolgt. Die Gedankenpolizei beschattet Winston Smith sieben Jahre lang, ehe sie zuschlägt. Gegen Ende des Buchs erwähnt Orwell „Wachsplattenaufnahmen“, die die Polizei von Smith besitzt. Die deutsche Erfindung des Magnetophons, die nach 1945 bekannt wurde, ist ihm offenbar entgangen. Von den Fernsehsendungen der BBC wusste er sicher. Sie strahlte von 1932 bis 1939 im Raum London ein TV-Programm aus; nach kriegsbedingter Pause startete es im Juni 1946 aufs Neue.

Die interessanteste Innovation von „1984“ ist die Künstliche Intelligenz, selbst wenn es den Ausdruck noch nicht gab. Winston Smith benutzt einen Sprechschreiber, der eingegebene Worte ohne fremde Hilfe zu Papier bringt. Seine Freundin arbeitet am „Versificator“: dieses Gerät erstellt automatisch die Rohfassung eines Romans. Ähnliche Maschinen verfassen Schlagertexte. Vermutlich wollte Orwell damit die populäre Literatur und ihre Schöpfer kritisieren. Inzwischen kann man die betreffenden Passagen als Satire auf die KI lesen.

Das sowjetisches Plakat „2 + 2 = 5“ stellte 1931 fest, dass der Fünfjahresplan von 1928 schon in vier Jahren erfüllt wurde.

„1984“ enthält eine der berühmtesten Gleichungen aller Zeiten: 2 + 2 = 5 Sie symbolisiert die Macht der Diktatur, die größer ist als alle Logik. Der Roman erwähnt noch ein zweites mathematisches Feld: Wahrscheinlichkeitstheorie. Mit ihr befassen sich die Proles, die Unterklasse von Ozeanien. Ihr Lebensinhalt ist das Glücksspiel, welches das Ministerium für Überfluss betreibt. Zitat: „Sobald es sich um die Lotterie handelt, schienen sogar Leute, die kaum lesen und schreiben konnten, zu verzwickten Berechnungen und erstaunlichen Gedächtnisleistungen fähig.“

Siebzig Jahre nach seinem Erscheinen ist George Orwells Werk wieder aktuell, zum Beispiel mit den Aussagen über Fake-News. Die englische und die deutsche Ausgabe sind online sowie mehrere Verfilmungen; hier ist eine von 1956. Die Wochenschau der Kinopremiere beweist, dass auch die Gedankenpolizisten von 1984 nette Kerle sind.

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