Die Rechenmaschine mit der Kurbel

Geschrieben am 12.05.2020 von

Vor 130 Jahren, am 16. Mai 1890, genehmigte die russische Zensur die Betriebsanleitung einer neuen Rechenmaschine. Nun konnte ihr Erfinder, der schwedische Ingenieur Willgodt Odhner, sein Gerät auf den Markt bringen. Im ersten Jahr wurden 500 Stück in Odhners Fabrik in Sankt Petersburg gebaut. Zum Welterfolg wurde die deutsche Lizenzausgabe; wir kennen sie als Brunsviga.    

Am Anfang stand Gottfried Wilhelm Leibniz. In den 1670er-Jahren dachte der Gelehrte über eine Rechenmaschine nach; dabei kam er auf ein Zahnrad mit einer variablen Anzahl Zähne. Das Sprossenrad ermöglichte mehrfache Additionen und somit die Multiplikation. Leibniz brachte es aber nie zum Rechnen. Er baute dann Maschinen mit Staffelwalzen.

Willgodt Odhner. (Foto Tekniska Museet Stockholm)

Das Sprossenrad wurde 1709 ein zweites Mal vom Italiener Giovanni Poleni erfunden. Seine Rechenmaschine funktionierte, Poleni hat sie jedoch verschrottet. Weitere Sprossenrad-Geräte konstruierten im 19. Jahrhundert der Ungar David Roth, der Pole Abraham Staffel und der Amerikaner Frank Baldwin; der Engländer David Wertheimber meldete ein Patent an. 1875 baute ein junger Schwede mehrere Rechenmaschinen mit Sprossenrad; 1878 erhielt er Patente in Deutschland und den USA. Er lebte in Russland und hieß Willgodt Odhner.

Geboren wurde er 1845 in der westschwedischen Provinz Värmland. Er wuchs in Karlstadt am Vänernsee auf; später zog die Familie nach Stockholm. Dort besuchte Willgodt Odhner von 1864 bis 1867 die Ingenieurschule, einen Abschluss machte er nicht. Er versuchte dann sein Glück im Zarenreich. Im Herbst 1868 fuhr er mit acht Rubeln und ohne ein Wort Russisch zu sprechen nach Sankt Petersburg. Er fand sofort Arbeit in einer mechanischen Werkstatt, die einem Schotten gehörte; damals waren wichtige Industriebetriebe der Stadt in britischer und schwedischer Hand.

Die Ur-Odhner aus den 1870er-Jahren; dieses Exemplar landete in den USA. (Foto National Museum of American History, Smithsonian Institution)

1869 wechselte Odhner in die Waffenfabrik von Ludvig Nobel, einem Bruder des Dynamit-Erfinders und Preisstifters Alfred Nobel. In den frühen 1870er-Jahren musste er einmal einen Thomas-Arithmometer reparieren. Das brachte ihn auf den Entwurf einer neuartigen und kompakten Rechenmaschine. 1875 lag ein Prototyp vor; Odhner nannte ihn gleichfalls Arithmometer. Während die Maschine von Charles Xavier Thomas Staffelwalzen enthielt, rechnete Odhners Gerät mit Sprossenrädern. Wie er die Technik entdeckte, ist unbekannt.

1876 und 1877 konnte Willgodt Odhner in der Nobel-Fabrik vierzehn Rechenmaschinen fertigen. Danach musste er das Unternehmen verlassen; von 1878 bis 1892 arbeitete er für eine staatliche russische Druckerei. Er meldete aber auch mehrere Patente für seinen Arithmometer an, eines davon in den USA. Die deutsche Urkunde von 1878 erhält man über die Internetseite des Patentamts: bitte  DE7393  in die obere Zeile des Menüs eintragen. Als Patentinhaber erscheint die Sankt Petersburger Firma Königsberger & Co.

Eine frühe Brunsviga A. Man erkennt die verlängerte Achse der Handkurbel.

Ab 1887 unterhielt Odhner neben der Arbeit eine private Werkstatt. Hier entstand eine verbesserte Ausführung des Arithmometers. Dafür reichte der Schwede im Frühjahr 1890 eine Bedienungsanleitung bei der Zensurbehörde ein. Die acht Seiten gab es in einer russischen und in einer deutschen Ausgabe. Letztere kann man hier nachlesen. Am 16. Mai 1890 erteilte der Zensor die Genehmigung. Es erschienen auch Texte in skandinavischen Sprachen. In Russland und in anderen Ländern meldete Odhner wieder Patente an.

Wichtiger war, dass die Rechenmaschine jetzt in den Verkauf gehen konnte. Die Version mit elfstelligem Resultatwerk kostete 75 Rubel, bei dreizehn Stellen musste man 100 Rubel zahlen. Das entsprach gut 200 Reichsmark, also zwei Monatslöhnen eines deutschen Facharbeiters. Ein Thomas-Arithmometer mit 16 Stellen kostete dagegen 300 Rubel, mit anderen Worten: Odhners Rechenmaschine war relativ preiswert. Bis Mitte 1891 wurden 500 Stück in Russland und in Skandinavien verkauft.

Eine Odhner aus den Jahren vor dem 1. Weltkrieg. Sie hat nun auch eine lange Kurbelachse.

1892 tat sich Willgodt Odhner mit einem englischen Investor zusammen; die Odhner-Hill Maschinenbau-Anstalt war geboren. Mitte der 1890er-Jahre verschwand Hill wieder; von nun an führte Odhner die Fabrik allein. Geld kam durch den Absatz von Rechenmaschinen und anderer technischer Artikel herein sowie durch den Verkauf von Patenten und die Einnahme von Lizenzgebühnen. Der wichtigste Vertrag betraf ein Unternehmen in Braunschweig: Grimme, Natalis & Co., kurz GNC.

Die GNC existierte seit 1871; sie hatte bis dahin Nähmaschinen, Öfen, Gaskocher und Haushaltsgeräte hergestellt. Im März 1892 wurde sie vom früheren Partner Willrodt Odhners, der Firma Königsberger & Co., wegen eines Lizenzvertrags angesprochen. Der kam einen Monat später zustande; die GNC zahlte 10.000 Reichsmark fürs Patent und 10 Mark für jede verkaufte Rechenmaschine. Die Details sind unklar, denn Königsberger besaß nur das Patent von 1878. Im November 1891 hatte Odhner aber die neue Maschine angemeldet.

Eine sowjetische Feliks-M. (Foto George Shuklin CC BY-SA 1.0 am Rand beschnitten)

Das Patent wurde ihm am 14. Oktober 1892 unter Nummer 64.925 erteilt. Schon am 29. August 1892 stellte GNC-Direktor Franz Trinks in Hannover die Brunsviga vor. So hieß der neue Odhner-Arithmometer in Braunschweig – Brunsviga ist der lateinische Name der Stadt. Sie sah so aus wie die Rechenmaschine in unserem Eingangsbild; sie kommt aus Sankt Petersburg, ging aber in den Export und erhielt das Schildchen der französischen Vertriebsfirma. Das typische Designmerkmal ist die kurze Drehachse der Kurbel.

Bis Ende 1892 verkauften die Braunschweiger 500 Brunsvigas zu jeweils 150 Reichsmark in Deutschland, Belgien und der Schweiz. 1912 bauten sie die 20.000. Rechenmaschine. 1927 nannte sich die GNC in Brunsviga-Maschinenwerke um; bis 1952 fertigte sie 265.000 Rechen- und Addiermaschinen. 1959 wurde Brunsviga von den Olympia-Werken geschluckt. In Braunschweig steht aber noch der frühere Firmensitz, er beherbergt heute eine Schule. Die Brunsviga-Produktgeschichte haben wir vor fünf Jahren im Blog erzählt.

Eine Odhner 200 von 1955. Designer Sigvard Bernadotte war ein verstoßenes Mitglied des Königshauses. (Foto Peter Häll, Tekniska Museet Stockholm CC BY 4.0 seitlich beschnitten)

Die GNC und die Brunsviga-Maschinenwerke verbesserten die Maschinen und fügten neue Typen hinzu. Nach Ablauf des Odhner-Patents eroberten sie die Welt. Konkurrenten wie Walther, Thales und Triumphator fertigten ähnliche Sprossenrad-Rechner. Willgodt Odhner starb 1905 in Sankt Petersburg, seine Firma bestand dort bis 1917. Sie stellte 30.000 Arithmometer her, ab 1907 unter den Namen Original-Odhner. Von 1918 bis 1973 florierte eine Nachfolgefirma in Schweden. Sie brachte 1964 die einmillionste Maschine heraus.

In Sankt Petersburg ging die Arithmometer-Produktion nach der Oktoberrevolution unter sowjetischer Regie weiter. 1924 wurde die Fertigung nach Moskau verlegt; dort und später an anderen Orten entstanden Rechenmaschinen mit der Bezeichnung Feliks. Namensgeber war der gefürchtete Geheimdienstchef Feliks Dzierżyński. Die letzte Feliks lief 1978 vom Band. Gerechnet von 1890 ergibt das eine Produktion desselben Maschinentyps über 88 Jahre. Das soll ein Computer erstmal nachmachen!

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2 Kommentare auf “Die Rechenmaschine mit der Kurbel”

  1. Ein interessanter Ausflug in die Rechentechnik. Ist bekannt, an wen die Thomas-Arithmometer verkauft wurden, wer waren die KundInnen?

    1. HNF sagt:

      Das besonders prächtige Exemplar des Thomas-Arithmometer, das im HNF gezeigt wird, ging an den König von Portugal. Auch andere Berühmtheiten der Zeit wurden quasi als frühes Marketing mit Maschinen bedacht. Ansonsten waren Versicherungen und andere Institutionen mit großem Rechenbedarf bevorzugte Kunden.

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