Sie leben!

Geschrieben am 12.05.2017 von

Die Neunziger bescherten uns nicht nur das World Wide Web, sondern auch eiförmige Schlüsselanhänger mit kleinen Bildschirmen. Darauf lebte das pixelige Tamagotchi. Es kam aus Japan und breitete sich ab dem 12. Mai 1997 in Deutschland aus. Wenn man es nicht liebend umsorgte, ging es ein. Im Jahr 2000 war das Phänomen aber schon vorbei.

Schlag nach im SPIEGEL, da steht was drin: „Der Begriff Tamagotchi setzt sich aus Tamago, japanisch für Ei, und Watch, englisch für Uhr, zusammen. Auf dem LCD-Bildschirm eines Computers schlüpft ein virtuelles Küken. Dieses macht auf sich aufmerksam und entwickelt je nach Art der Pflege verschiedene Gemütszustände. Lebenserwartung: etwa 1 Monat.“

Soweit das Hamburger Nachrichtenmagazin am 30. Juni 1997. Abgesehen von der Tatsache, dass der Computer ein eiförmiges Anhängsel mit Mikroprozessor, Mini-Display und drei Druckknöpfen war, stimmte die Definition. Anderthalb Monate vorher, genauer gesagt, am 12. Mai 1997 lagen die ersten Tamagotchi in deutschen Geschäften. Sie kosteten 29,90 DM und verkauften sich wie die berühmten warmen Semmeln. Im ersten Jahr gingen angeblich zwei Millionen über den Ladentisch, weltweit sollen es 20 Millionen gewesen sein.

Tamagotchi von 2004 (Foto Tomasz Sienicki, CC BY-SA 3.0)

Danach verschwanden die Pixelwesen so schnell wie sie gekommen waren. Zwar gab es ab und zu einen Relaunch wie 2004 das System Tamagotchi Connection, das mit Infrarotlicht andere Tierchen suchte. Zwei Jahrzehnte nach dem deutschen Start – in Japan erschienen die Tamagotchi ein halbes Jahr früher – zählt das Spielzeug aber zu den Mythen der 1990er-Jahre. Daran ändert auch die Meldung nichts, dass im April 2017 Hersteller Bandai Namco eine verkleinerte Form des Ur-Tamagotchi herausbrachte.

1995 hieß Bandai Namco nur Bandai, saß in Tokio und hatte eine Mitarbeiterin namens Aki Maita. 1967 geboren, wollte sie zuerst Kindergärtnerin werden; im Jahr 1990 trat sie in die Spielzeugfirma ein. Wie es heißt, brachte eine Freundin, die ein Frettchen besaß, sie auf die Idee des Tamagotchi. Es könnte aber auch ein Junge mit einer Schildkröte gewesen sein. Anfang 1996 schlug Aki Maita das Konzept vor, und Bandai bildete ein Entwicklungsteam. Im Oktober wurden 200 Prototypen in einem Mädchengymnasium verteilt.

Das Feedback war so gut, dass die erste Generation der Digitaltierchen am 23. November 1996 in den Handel kam. Eine amüsante Beschreibung der Tamagotchi-Frühzeit druckte die ZEIT am 28. Februar 1997. Der SPIEGEL brachte später im Jahr eine Analyse („Irritierte Lehrer, hilflose Eltern, besorgte Psychologen“). Es fehlte nicht das begleitende Interview mit einem Seelenforscher („Perversion im klassischen Sinne“). Wer sich für Details des Systems interessiert, sollte lieber das Tamagotchi-Wiki studieren.

Der Furby erschien 1998 in den USA (Foto Andreas Praefcke)

Autonome Digitalwesen gab es lange vor dem japanischen Kultspiel. 1985 veröffentlichte die Computerspielfirma Activision die Little Computer People. Das Programm schildert den Tagesablauf eines kleinen Mannes in einem dreistöckigen Haus. Ein Jahr später war für Nintendo-Freunde die Bird Week erhältlich. Hier konnte der Spieler eine Vogelfamilie am Leben erhalten. Virtuelle „Dogz“ bellten 1995, und 1996 miauten die „Catz“. Beide Spiele produzierte PF Magic in San Francisco. Sie führten dann zur Petz-Serie.

Das Feld der digitalen Haustiere und Lebenssimulationen ist weit. Wir möchten nur noch – Wau! Wau! – auf die putzigen Nintendogs hinweisen. Auch die Tamagotchi wurden schnell nachgemacht. Schon 1997 konkurrierten sie, wie ein Bericht aus der Schweiz zeigt, mit den Smart Chicks. Bandai-Deutschlandchef Michael Spindler kämpfte landauf landab gegen „Trittbrettfahrer, Markenpiraten und Schmarotzer“. Für Experten: Zuvor war Spindler drei Jahre lang Chef des Computerherstellers Apple gewesen.

Angesichts der Fortschritte der Computergrafik und der Qualität, die jene schon Mitte der 1990er-Jahre aufwies, verwundert der Erfolg der minimalistischen Tamagotchi. Ein Grund mag die Mobilität gewesen, die die Technik des Schlüsselanhängers ermöglichte. Insofern lassen sich die Pixelwesen mit dem gleichfalls 1996 geborenen Smartphone vergleichen. Als erwachsenes Gegenstück empfehlen wir aber das Spiel Viridi, wo man so richtig schön meditieren kann. Nicht über nervige Küken, sondern schweigsame Topfpflanzen.

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