Wenn das Papier den Dreh raushat

Geschrieben am 17.11.2017 von

Im 15. Jahrhundert begann Johannes Gutenberg in Mainz mit dem Buchdruck. Er nahm richtiges Papier aus pflanzlichen Fasern. Vor zehn Jahren stellte Amazon-Chef Jeff Bezos in New York das tragbare Lesegerät Kindle vor. Es zeigt Buchseiten mit Mikrokügelchen an, die sich zu einzelne Buchstaben gruppieren. Erfunden wurde das Verfahren schon in den 1970er-Jahren in Kalifornien.

Im Januar berichteten wir im Blog über ein historisches Ereignis, das sich zehn Jahre zuvor in Kalifornien zutrug: die Vorstellung des ersten iPhones durch den Apple-Chef Steve Jobs. Im gleichen Jahr 2007 fand eine zweite Präsentation statt, die Produktgeschichte schrieb. Am 19. November enthüllte Jeff Bezos, Gründer und Leiter des Online-Buchdienstes Amazon, in New York den Kindle. Selbiger ist ein Lesegerät für digitale Texte aller Art, die auf einem Bildschirm erscheinen, für elektronische Bücher, Zeitungen und Zeitschriften.

Der erste Kindle von Amazon (Foto Jon ‚ShakataGaNai‘ Davis CC BY-SA 3.0)

In der Urform maß er sechs Zoll oder gut fünfzehn Zentimeter in der Diagonalen. Der gesamte Kindle war neunzehn Zentimeter lang und etwas über dreizehn Zentimeter breit. Die jüngste Version mit Namen Oasis trägt einen Monitor von sieben Zoll und eignet sich sogar für den Swimming Pool. Davon hätte Johannes Gutenberg nur träumen können. Die technische Basis der Lesegeräte ist immer noch die gleiche wie vor zehn Jahren: Der Bildschirm besteht nicht aus Flüssigkristallen wie allgemein üblich, sondern aus elektronischem Papier.

Erfunden wurde es wie vieles aus der Informationstechnik in Kalifornien. 1970 gründete die Kopiererfirma Xerox in Palo Alto das Forschungszentrum PARC; es sollte neue Möglichkeiten der Hardware und Software erkunden. In der Folgezeit brachte das Zentrum Ideen hervor, die die Computerwelt revolutionierten, allen voran den Personal Computer mit Maus und Menü. Entwickelt wurden auch der Laserdrucker, das lokale Netzwerk, das Bitmap-Format und die Programmiersprache Smalltalk. Geld verdiente man jedoch nur mit dem Drucker.

Gyricon-Kügelchen mit hellen und dunklen Hälften (Foto Xerox Corporation)

In den Siebzigern trat der Physiker Nicholas Sheridon ins PARC ein. Er war Jahrgang 1935 und hatte in einer Hochschule der Autostadt Detroit studiert. 1976 meldete er ein „Twisting ball panel display“ zum Patent an, eine Anzeige mit drehbaren Kugeln. Erteilt wurde das Patent 1978. Die Kugeln hatten einen zehntel Millimeter Durchmesser und saßen in klaren Hüllen, die eine Fläche füllten. Sie hatten dunkle und helle Hälften und wurden durch elektrische Felder ausgerichtet. Durch passende Ströme ließen sich mit ihnen Muster bilden.

Das konnten auch Buchstaben sein. Das große Plus war, dass die Zeichen nicht leuchteten, sondern wie Druckbuchstaben auf Papier standen. Das sparte Energie. Sheridon nannte das System Gyricon nach dem griechischen Wort für drehen; es bürgerte sich dann der Name elektronisches Papier ein. Xerox tat aber nur sehr wenig dafür. Erst in den 1990er-Jahren setzte Sheridon die Forschung fort und fand ein Fertigungsverfahren. 2001 kam es zur Gründung des Unternehmens Gyricon LLC und zur Kooperation mit dem 3M-Konzern.

Gyricon-Anzeige (Foto Xerox Coropration)

Damals entstand unser Eingangsbild (Foto Xerox Corporation): Nicholas Sheridon und seine Assistentin halten die erste produzierte Bahn der papierähnlichen Substanz. 2005 wurde Gyricon LLC aus Kostengründen wieder geschlossen. Wie es heißt, verkaufte die Firma nur Anzeigentafeln mit der neuen Technik. Somit war die erste Chance vertan, elektronisches Papier auf den Markt zu bringen. Der zweite Versuch lief aber schon, auf der anderen Seite des Landes im Massachusetts Institute of Technology MIT in Boston.

Im Media Lab des MIT arbeitete der 1965 geborene Physikprofessor Joseph Jacobson. Ihm zur Seite standen die Studenten Jonathan Albert und Barrett Comiskey. 1997 schuf das Team eine Anzeige mit durchsichtigen Kapseln. Ihr Durchmesser betrug etwa 40 Mikrometer, und jede enthielt dunkles Öl. Darin schwammen viele weiße Kügelchen von Mikrometergröße. Legte man eine Spannung an, sammelten sich die Kügelchen an einer Seite und verdrängten dort das Öl. Dunkle Punkte der Fläche verwandelten sich dadurch in helle.

Uhr mit E-Ink-Ziffern (Foto E Ink Holdings )

Jener Effekt war die erfinderische Basis der Firma E Ink. Jacobson, Albert und Comiskey gründeten sie mit zwei Partnern 1997 im Städtchen Billerica nordwestlich von Boston. Die Anzeige wurde weiter verfeinert, etwa durch Hinzufügen von schwarzen Kügelchen. Das führte zu einer marktfähigen Sorte elektronischen Papiers. Im April 2004 brachte Sony in Japan das erste Lesegerät mit solchem Papier heraus, den Librié EBR-1000EP. Der Bildschirm hatte schon das später von Amazon benutzte Format von sechs Zoll.

2004 erfolgte im Silicon Valley ebenso die Gründung der Firma Amazon Lab126. In drei Jahren entwickelt sie mit der Displaytechnik von E Ink den Kindle; damit endet unsere kleine Geschichte des elektronischen Papiers. Dieses entsteht inzwischen auch in Deutschland, genauer gesagt, am nördlichen Stadtrand von Dresden. Dort sitzt seit 2008 die Fabrik von Plastic Logic Germany und produziert ihr Lectum. Was auf Deutsch „erlesen“ heißt im Sinne von erstklassig. Unten ist ein Beispiel, ein elektronischer Busfahrplan für draußen. Wir wünschen allzeit gute Fahrt!

(Foto Plastic Logic Germany)

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