Konrad Zuse und die Mikrotechnik
Geschrieben am 06.09.2016 von HNF
Die Mikrotechnik befasst sich mit Objekten im Bereich von Tausendstel Millimetern. Der Computerpionier Konrad Zuse war auch ein Visionär auf diesem Gebiet. 1957 behandelte er die Mikrotechnik in einem Vortrag. Von 1969 bis 1974 arbeitete er an der Montagestraße SRS 72. Sie sollte zu einem Fertigungssystem führen, das immer kleinere Kopien von sich selbst erstellt.
Die Mikroelektronik kennt jeder. Sie widmet sich feinsten Strukturen auf Siliziumchips im Bereich von Nanometern. Ein Nanometer ist ein Millionstel Millimeter. Die Mikrotechnik hantiert mit etwas größeren Objekten – ein Mikrometer ist ein Tausendstel Millimeter. Es gibt auch eine Nanotechnik, aber die wollen wir außen vor lassen.
Konrad Zuse erfand den Computer und war Pionier der deutschen Computerindustrie. Darüber hinaus zählt er zu den Vordenkern der Mikrotechnik. Sein realer Erfolg hält sich im Rahmen, aber er war der erste Forscher, der sich ernsthaft mit der fernen Zukunft der Miniaturisierung befasste. Seine Ideen setzte er zumindest teilweise in Hardware um. Den Anfang machte er jedoch mit einer Rede in der Technischen Universität Berlin-Charlottenburg, wo er einst studierte. Dort erhielt er am 28. Mai 1957 den Ehrendoktor der Ingenieurwissenschaft.
Gegen Ende der Rede kam Zuse zur automatischen Fertigung und „zum Problem der Maschine, welche sich selbst nachbauen kann“. Und dann ging er einen Schritt weiter: „Gelingt es, eine Werkstatt zu bauen, die sich selbst im halben Maßstab nachzubauen in der Lage ist, so erhielte man eine Reihe solcher Werkstätten, die in ihrem Umfang immer mehr einschrumpfen, bis sie so klein sind, daß man die ganze Fabrik nur noch unter dem Mikroskop beobachten kann.“ Das würde auch eine „technische Keimzelle“ ermöglichen, die man in den Boden setzt und die zu einer Fabrik heranwächst.
Diese Passagen waren für die Zuhörer vermutlich schwer zu schlucken. Dabei wurden sie durch einen berühmten Mathematiker angeregt, den 1903 in Budapest geborenen und 1957 in Washington verstorbenen John von Neumann. Er hatte 1948 einen Automaten beschrieben, der sich selbst kopiert. Von 1955 an verbreitete sich John von Neumanns Konzept in populärwissenschaftlichen Zeitschriften und Büchern, und auch Konrad Zuse erfuhr davon. Schon 1941 hatte er allerdings das „Problem der Werkstatt, die imstande ist, sich selbst wieder zu konstruieren“ notiert.
Zuse modifizierte von Neumanns selbst reproduzierendes System an zwei Punkten. Er stellte es in ein technisches Umfeld und führte zweitens die Verkleinerung ein. Eine ähnliche Idee entwickelte Ende 1959 der Physiker Richard Feynman. Sein Vortrag Viel Spielraum nach unten gilt als Geburtsurkunde der Nanotechnik. Feynman und Zuse trafen sich 1981 bei einer Konferenz in Boston. Feynman wusste aber sicher nichts von Zuses Berliner Rede, und der deutsche Computererfinder erwähnte nie den Vortrag des amerikanischen Wissenschaftlers von 1959.
Der Gedanke, dass eine Folge immer kleinerer Werkzeuge zu mikro- oder nanotechnischen Objekten führt, findet sich schon in der Science-Fiction. In unserem Blog erwähnten wir Ludwig Dexheimer und seine 1930 erschienene Utopie Das Automatenzeitalter. Dort leben intelligente Roboter, die Homaten, und Dexheimer spekulierte über Modelle, die Zwerghomaten bauen. Diese erzeugen wiederum noch kleinere Mikrohomaten. Leider strich der Lektor den Einfall aus dem Text der Erstauflage, er steht aber im Typoskript des Autors, siehe Bild oben.
1967 fasste Konrad Zuse seine Ideen in einem Aufsatz Über sich selbst reproduzierende Systeme zusammen. Er erschien in Heft 2 der Zeitschrift „Elektronische Rechenanlagen“. Zuse unterschied darin Anlagen, die verkleinerte Kopien von sich selbst anfertigen, von den technischen Keimzellen, welche anders geartete und auch größere Systeme erzeugen. Die einzige Voraussetzung ist die Zuführung von Rohmaterial. Am Schluss sprach er außerdem über sich selbst reparierende Systeme.
Im Juni 1967 ergab sich ein Kontakt zwischen Konrad Zuse und Georg Straimer, einem hohen Beamten des Bonner Wissenschaftsministeriums. Im Oktober schickte Zuse ihm eine mehrseitige Ausarbeitung „Von der Automation zur Supertechnik“. Der nächste Schritt war ein Projektantrag für eine „Montagestraße im Rahmen sich selbst reproduzierender Systeme“. Diesen reichte Zuse im Sommer 1969 bei der Fraunhofer-Gesellschaft ein, die sich hauptsächlich mit angewandter Forschung befasste. 1970 folgte ein zweiter Antrag an das Bonner Ministerium.
Von Januar 1971 bis Juni 1972 kam Konrad Zuse in den Genuss von Fördermitteln. Das Resultat war eine Schraubensetzvorrichtung, ein kleiner Industrieroboter, der sich auf parallelen Schienen bewegte. Anschließend konstruierte Zuse um ihn herum und mit eigenem Geld die Montagestraße SRS 72. Mit Maßen von 2 x 1 x 1,50 Meter enthielt sie weitere bewegliche Elemente, die Bauteile hin und her fuhren. Bei der Programmierung unterstützte ihn sein Sohn Horst.
Das Projekt endete 1974. Die Anlage setzte nur Schrauben, erfolgreich montiert hat sie nichts. Was in der Realität nicht gelang, ermöglicht aber die Computeranimation: auf dieser Seite kann man unten einen Film mit der SRS 72 aufrufen. In den späten 1970er-Jahren beriet Konrad Zuse die Zahnradfabrik Friedrichshafen, die ein flexibel verkettetes Fertigungssystem entwickelte. Das System ging 1983 in Betrieb. Mit der Vision der Selbstreproduktion hatte es nur wenig gemein.
Die Montagestraße SRS 72 steht mittlerweile im Depot des Deutschen Museums in München. Der Restauratorin Nora Eibisch verdanken wir einen Artikel dazu, der online ist, und ein neues Fachbuch, das wir allen Interessierten empfehlen. Eine gute englischsprachige Übersicht über das gesamte Feld der Selbstreproduktion erschien 2004. Und wer uns einen 3D-Drucker bringt, der sich selbst druckt, kann mit einem Ehrenplatz im HNF rechnen.
Eingangsbild: Konrad Zuse Internet Archive, CC BY-NC-SA 3.0