
Martin und Mitchell – die Überläufer von der NSA
Geschrieben am 05.09.2025 von HNF
Im Kalten Krieg wechselten Geheimdienstler manchmal die Seiten. Am 6. September 1960 traten in Moskau die Amerikaner William Martin und Bernon Mitchell vor die Presse. Sie arbeiteten seit 1957 für die supergeheime National Security Agency; im Juni und Juli 1960 reisten sie in die Sowjetunion aus. In der neuen Heimat wurden sie aber nicht glücklich.
Der 6. September 1960 steht in den Annalen der deutschen Sportgeschichte. Das Finale über 400 Meter bei den Olympischen Spielen in Rom beendete der Leichtathlet Carl Kaufmann nur äußerst knapp hinter dem Amerikaner Otis Davis. Kaufmann erhielt die Silbermedaille, doch die Zeiten waren genau gleich, und beide Läufer erzielten einen neuen Weltrekord.
2.377 Kilometer nordöstlich von Rom machten am selben Tag zwei andere junge Männer Schlagzeilen. Im Moskauer Pressehaus sahen zweihundert Journalisten die Mathematiker William Martin und Bernon Mitchell. Sie hatten für die damals noch ziemlich unbekannte National Security Agency gearbeitet. Die NSA sitzt zwischen Washington und Baltimore, widmet sich dem Ver- und Entschlüsseln von Texten und Sprache und erfüllt vielfältige Abhöraufgaben. Kurz gesagt: Martin und Mitchell waren die ersten Angehörigen eines US-Geheimdienstes, die in den Ostblock wechselten.
William Martin wurde am 27. Mai 1931 in Georgia geboren, wo er auch aufwuchs. Kurz nach dem Ende des Zweites Weltkriegs zog die Familie nach Ellensburg im US-Bundesstaat Washington; Martin besuchte die High School und zudem Kurse der örtlichen Universität. Anschließend nahm er ein Mathematikstudium auf, 1951 ging er zur Marine, vielleicht wegen des 1950 ausgebrochenen Koreakriegs. Nach der Grundausbildung diente er in einem Stützpunkt in Japan, der den Funkverkehr in der Region überwachte.
Bernon Mitchell kam am 11. März 1929 in San Francisco zur Welt; später lebte er in Eureka/Kalifornien. Er absolvierte die High School und zwei Hochschuljahre, ehe er sich 1951 ebenfalls der Marine anschloss. Er landete im gleichen Stützpunkt wie William Martin; die zwei freundeten sich an. Nach der Militärzeit studierte Mitchell an der Stanford-Universität und erwarb einen Bachelor in Statistik. Martin blieb zunächst in Japan und arbeitete als ziviler Kryptologe für die US-Armee. Ab 1956 studierte er Mathematik in Seattle.
Im Frühjahr 1957 wurden beide Männer von der NSA angesprochen, im Juli traten sie ihren Dienst an. Im Herbst 1957 besuchten sie die Universität der Bundeshauptstadt Washington, danach arbeiteten sie in der NSA-Forschungsabteilung. Ab 1959 konnte William Martin auf Staatskosten sein Studium an der Universität von Illinois fortsetzen, er lernte auch Russisch. Im Februar 1959 suchten Martin und Mitchell den demokratischen Politiker Wayne Hays auf und informierten ihn über geheime Aktionen von amerikanischen Flugzeugen; das Ziel war hauptsächlich das Erkunden von Radarsystemen der UdSSR.
Das Gespräch führte zu nichts, und Hays vergaß die Sache. Ende 1959 reisten Martin und Mitchell nach Kuba, das seit Jahresanfang der Revolutionär Fidel Castro regierte. Solche Touren waren NSA-Mitarbeitern eigentlich verboten. Am 1. Mai 1960 traf eine sowjetische Rakete ein Spionageflugzeug vom Typ U2, das im Auftrag des Geheimdienstes CIA operierte. Die zwei Mathematiker wussten sicherlich von dem Projekt. Spätestens jetzt beschlossen sie, die USA in Richtung Russland zu verlassen.
Sie taten es dann im Juni und Juli 1960 über Mexico City und Havanna; die letzte Etappe legten sie auf einem sowjetischen Schiff zurück. Als sie nach einem vorher angekündigten Urlaub im Juli nicht an ihren Arbeitsplätzen erschienen, schöpfte die NSA Verdacht und leitete Nachforschungen ein. Am 1. August 1960 gab das US-Verteidigungsministerium das Verschwinden der beiden Männer bekannt. Einige Tage später schob es die Information nach, dass sie sich hinter dem Eisernen Vorhang aufhalten könnten.
Am 6. September 1960 brachte die oben erwähnte Pressekonferenz Klarheit. Den Vortrag von William Martin – im Eingangsfoto sitzt er links neben Bernon Mitchell – kann man hier nachlesen und hier anhören. Zu Beginn nannte Martin drei Motive für das Überwechseln in die UdSSR: die Spionageflüge der USA über Ostblockländer, die kryptologischen Angriffe auf befreundete Staaten und das Ausforschen dieser Staaten durch menschliche Agenten. Er befürchtete zudem einen Präventivkrieg der USA gegen die Sowjetunion.

Mit dieser Maschine erinnerte die NSA ab 1997 an einen tödlich geendeten Aufklärungsflug. Im Jahr 2017 wurde sie wieder entfernt.
Als Beispiel für Luftspionage schilderte Martin die Mission einer viermotorigen Hercules am 2. September 1958 an der türkisch-sowjetischen Grenze. Neben der sechsköpfigen Crew waren elf Spezialisten für Funkaufklärung an Bord, die die Reaktionen von Radaranlagen auf die Maschine verfolgten. Mit Absicht oder aus Versehen geriet die Hercules in den Luftraum der UdSSR und wurde über dem heutigen Armenien von MiG-17-Jägern abgeschossen. Alle siebzehn Personen im Flugzeug starben. Auf ihrem Gelände stellte die NSA, siehe oben, eine baugleiche Maschine als Mahnmal auf.
Im zweiten Teil des Vortrags erläuterte William Martin die Abteilungen der NSA. Er teilte mit, dass er und Bernon Mitchell eine Rundreise durch die UdSSR gemacht hätten und nicht mehr US-, sondern Sowjetbürger wären. Über die Weitergabe von NSA-Geheimnisse an den KGB sagte er natürlich nichts, wir dürfen aber annehmen, dass die beiden einiges verrieten. Die Nachrichtenagentur TASS verbreitete die Texte der Pressekonferenz auch im Westen; das ist der Bericht einer Schweizer Zeitung. Die Deutsche Presse-Agentur sprach nur von einer neuen sowjetischen Propaganda-Offensive.
In den USA löste der Auftritt von Martin und Mitchell einen Schock aus. Die NSA verschärfte umgehend ihr Einstellungsverfahren, außerdem entließ sie 26 Mitarbeiter wegen „sexueller Abweichungen“. 1962 veröffentlichte der Kongressausschuss für unamerikanische Umtriebe eine Untersuchung, 1981 erschien ein Buch über die Affäre. Man kann es nach Anmeldung im Internet Archive studieren. Lesenswert sind die Papiere, die der Enthüllungsjournalist John Greenewald 2015 von der NSA erhielt. Für tiefer gehende Recherchen verlangte der Geheimdienst 1.848 Dollar, die Greenewald aber verweigerte.
Nach dem Auftritt vor 65 Jahren wurde es rasch still um William Martin und Bernon Mitchell. Beide wollten später in ihre Heimat zurückkehren, was sich als unmöglich erwies. Martin gelang die Ausreise nach Mexiko; er starb am 17. Januar 1987 in einem Krankenhaus in Tijuana. Sein Grab soll sich in den USA befinden. Mitchell blieb in Russland und arbeitete als Programmierer; er erlag am 12. November 2001 in Sankt Petersburg einem Herzanfall. Wer Russisch versteht, kann sich auf YouTube ein langes Interview mit seiner Witwe Galina anschauen, das ist der erste und das der zweite Teil.