Alan Turings Computer
Geschrieben am 08.05.2020 von HNF
In seinem kurzen Leben wirkte der Computerpionier Alan Turing nur an einem Projekt mit, das zu einem Elektronenrechner führte. Das war die Entwicklung der ACE, der „Automatic Computing Engine“. Sie entstand ab 1945 im Nationalen Physiklabor am Stadtrand von London. Eine kleinere Version mit Namen Pilot ACE führte vor siebzig Jahren das erste Programm aus.
Viel passierte nicht am Nachmittag des 10. Mai 1950. Am Steuerpult gingen nacheinander die Lämpchen an; dabei hing das Tempo des Aufleuchtens von der Zahl der umgelegten Kippschalter ab. Es war das erste Programm eines neu entwickelten Computers. Er stand im Londoner Vorort Teddington und wurde Pilot ACE genannt, zu Deutsch Testmodell der ACE. Die Abkürzung stand für „Automatic Computing Engine“.
Die Geschichte der automatischen Rechenmaschine – das Wort „Engine“ erinnerte an den Computervisionär Charles Babbage – beginnt fünf Jahre zuvor. Am 1. Oktober 1945 trat Alan Turing die Arbeit im Nationalen Physiklabor NPL an. Das ist die englische Behörde für Maße, Gewichte und Uhrzeiten mit Sitz in Teddington. Eingestellt hatte Turing der Leiter der NPL-Mathematikabteilung, John Womersley. Er wusste von dem gerade im Bau befindlichen amerikanischen ENIAC und wollte ein ähnliches Elektronengehirn schaffen.
Womersley wusste nichts von Turings Wirken im Dechiffrierzentrum Bletchley Park. Er kannte aber seinen Artikel über die nach ihm benannte Maschine, die einen abstrakten Computer darstellt. Im Dezember 1945 schloss Alan Turing ein 48 Seiten langes Papier über einen Proposed Electronic Calculator ab. Der Vorschlag für einen Elektronenrechner nahm Ideen des Computerpioniers John von Neumann auf, er war aber ein eigenständiges Konzept mit detaillierten Empfehlungen für die Hardware. Er zählt heute zu Turings Hauptwerken.
Im Mai 1946 billigte das britische Wissenschaftsministerium das Projekt. Es wurden zwei Leute eingestellt, und Alan Turing überarbeitete mehrmals sein Konzept. Anfang 1947 kamen weitere Mitarbeiter hinzu, darunter der amerikanische Mathematiker Harry Huskey. Getestet oder gar zusammengebaut wurde aber wenig. Im Herbst 1947 ging Turing für ein Semester an die Universität Cambridge, im Frühjahr 1948 kehrte er wieder nach Teddington zurück. Im Mai kündigte er beim NPL und wechselte an die Universität von Manchester.
Jetzt starteten ernsthafte Arbeiten mit dem Ziel eines funktionsfähigen Computers. Das NPL erkannte, dass das zunächst angestrebte Konzept unrealisierbar war, und bemühte sich um eine kleinere Lösung. Sie basierte auf Entwürfen von Alan Turing und Harry Huskey; der wichtigste Mann im Team – zu dem auch eine Frau gehörte – war jedoch der Mathematiker James Wilkinson. Erwähnen müssen wir noch den jungen Physiker Donald Davies und die Ingenieure der Firma English Electric, die beim Bau der Pilot ACE halfen.
Der so getaufte Computer lief, wie beschrieben, vor siebzig Jahren. Er war noch nicht ganz fertig, voll ausgebaut umfasste er 800 Elektronenröhren und zwölf Verzögerungsspeicher. Das waren anderthalb Meter lange mit Quecksilber gefüllte Rohre, durch die 32 akustische Impulsfolgen mit jeweils 32 Bit geschickt wurden. Für Outputs waren Lochkartengeräte anschließbar; außerdem besaß das Schaltpult eine Kathodenstrahlröhre zur Anzeige von Ziffern. Nimmt man das Pult hinzu, war die Pilot ACE vier Meter lang.
Im November 1950 wurde sie den Journalisten vorgeführt. Zum Erstaunen der NPL-Forscher arbeitete sie einwandfrei und absolvierte drei Programme. Das erste berechnete zu einem Datum den Wochentag, das zweite gab zu einer Zahl den kleinsten Primfaktor an. Das dritte Programm ermittelte den Weg eines Lichtstrahls durch Linsen. Die Fotos vom Pressetermin zeigen das Team mal aktiv und mal besinnlich. Die Wochenschau war nicht zugegen, es gibt aber einen Film von 1949 mit Donald Davies und seinem Tic-Tac-Toe-Automaten.
Die Pilot ACE sollte eigentlich zu Tests dienen. Da sie aber der einzige englische Computer im Staatsbesitz war, stellte sich die Frage nach einer größeren Nutzung. Zunächst löste sie Probleme des Nationalen Physiklabors. Im Februar 1952 nahm sie den regulären Dienst auf; dazu gehörten Aufgaben, die von Interessenten draußen im Lande vorgelegt wurden. Das geschah nicht kostenlos; im Lauf der Zeit brachte die Pilot ACE dem NPL 100.000 Pfund ein. Schlagzeilen machten 1954 Berechnungen, mit denen drei Abstürze des Düsenflugzeugs Comet aufgeklärt wurden. Damals erhielt der Computer auch einen Trommelspeicher.
1955 wurde er abgeschaltet und kam ins Londoner Science Museum. Im gleichen Jahr erschien die DEUCE der English Electric Company, eine kommerzielle Version der Pilot ACE. „Deuce“ ist die Zwei im Kartenspiel und Nachfolger des As, auf Englisch „Ace“. Bis 1964 entstanden 33 Exemplare der drei DEUCE-Typen. Vermittelt durch Harry Huskey fanden Ideen aus der Pilot ACE den Weg in die G-15. Der Röhrenrechner der US-Firma Bendix zählte zu den kleinsten im Markt; der Hersteller verkaufte von 1956 bis 1963 mehr als 400 Stück.
1955 ging ebenso der Ministry of Supply Automatic Integrator and Computer in Betrieb. Der MOSAIC war eine größere Ausführung der Pilot ACE und enthielt 6.480 Elektronenröhren. Er operierte in einem englischen Radarforschungszentrum. Drei Jahre später weihte das NPL die nächste ACE ein. In ihr steckten 6.000 Röhren; sie rechnete in Teddington bis 1967. Ihre Konstruktion übernahm einige Prinzipien des Pilotmodells; so benutzte sie etwa einen Quecksilber-Verzögerungsspeicher. Eigentlich war sie aber schon beim Start veraltet.
Alan Turing erlebte die „richtige“ ACE nicht mehr. Wie wir wissen, starb er 1954 kurz vor seinem 42. Geburtstag. James Wilkinson gewann 1970 den Turing-Preis, den Nobelpreis der Informatik. Hier sehen wir ihn in einem Video von 1982 – bitte bis Minute 1:00 vorgehen. Donald Davies erfand 1965 die Paketvermittlung zur Übertragung von Daten; sie ist die technische Basis des Internet. Die Pilot ACE im Science Museum bleibt der Ruhm, der älteste vollständig erhaltene Computer Englands zu sein. Und das ist ja auch etwas Schönes.
Unser Eingangsbild zeigt die Pilot ACE (Foto Science Museum Group CC BY-NC-SA 4.0).