Chip auf der Haut
Geschrieben am 07.10.2016 von HNF
Am 29. Oktober eröffnet das HNF vier neue Abteilungen. Einer von ihnen ist die „Smart World“. Sie zeigt digitale Vernetzung und eine Vielfalt von Sensoren, darunter solche für Körperdaten. Zur Einstimmung möchten wir elektronische Systeme schildern, die im Körper oder auf der Haut sitzen und nicht nur Daten sammeln, sondern auch als künstliche Sinnesorgane dienen.
Alle lieben den Cyborg. Geboren wurde er im Mai 1960 in der luftfahrtmedizinischen Hochschule der US-Luftwaffe in San Antonio in Texas, bei einem Symposium über psychophysiologische Aspekte des Raumflugs. Das Thema war hochaktuell, denn die Raumfahrtbehörde NASA bereitete zwei Affen und sieben Menschen auf den Flug ins Weltall vor.
Zum Programm des Symposiums zählte der Vortrag Drogen, Weltraum, Kybernetik von Manfred Clynes und Nathan Kline. Die Autoren arbeiteten in einer großen psychiatrischen Klinik nördlich von New York. In ihrem Referat beschrieben sie Methoden, um Menschen den Zuständen im Kosmos anzupassen, von der konstanten Zuführung von Medikamenten bis zum Anschluss an technische Systeme, zum Beispiel für die Atmung. Alles sollte automatisch und über Regelkreise funktionieren, so wie es die neue Wissenschaft der Kybernetik forderte.
Eine solche Anpassung führt laut Clynes und Kline zum kybernetischen Organismus, dem Cyborg. Noch bevor der Vortragstext der beiden in Druck erschien, brachte die amerikanische Illustrierte LIFE ein Bild des neuen Menschen, wie er ohne Schutzanzug über einen fremden Planeten läuft. Der Cyborg verbreitete sich bald in der Science-Fiction und führte zu den Borgs im Star-Trek-Universum. Später wurde er zum Liebling der Transhumanisten, die von der Verbesserung des Homo sapiens träumen.
In Deutschland schlossen sich die Cyborg-Freunde, wie es sich gehört, in einem Verein zusammen. Wie sieht es aber wirklich mit der technischen und speziell der elektronischen Optimierung des Menschen aus? Medizintechnik ist ein weites Feld, und zu seinem zehnten Geburtstag 2006 präsentierte das HNF eine große Sonderausstellung Computer.Medizin, wie das Eingangsbild zeigt (Foto: Jan Braun, HNF). Dabei wollen wir die seit langem bekannten Prothesen, die menschliche Gliedmaßen ersetzen, außer Acht lassen und nur kleine Systeme betrachten, die im weitesten Sinne mit Datenverarbeitung zu tun haben.
Das älteste System dieser Art war das Hörgerät. Die erste elektrische Hörhilfe, noch in analoger Technik, konstruierte der junge Amerikaner Miller Reese Hutchison in den 1890er-Jahren. 1913 brachte Siemens & Halske in Berlin das Esha-Phonophor heraus; der erste Teil des Namens bezieht sich auf die Initialen der Firma. Es umfasste zwei Kohlemikrophone, die auch als Verstärker wirkten, einen Kopfhörer und die Batterie. Das Gerät passte in eine Handtasche oder wurde umgehängt.
In den 1920er-Jahren erschienen die ersten Hörgeräte mit Elektronenröhren. Im Januar 1953 stellte die amerikanische Firma Maico Electronics das Transist-Ear vor, das mit den gerade erfundenen Transistoren verstärkte. In den späten Fünfzigern brachten mehrere Hersteller, darunter Siemens, Hörgeräte auf den Markt, die hinter der Ohrmuschel befestigt wurden. Die Entwicklung des Mikroprozessors führte zu volldigitalen Systemen, die sich automatisch der aktuellen Hörsituation anpassen. Das Prisma von Siemens war 1997 das erste mit zwei Mikrofonen.
Eine Herausforderung für die medizinische Informatik bedeuten Schäden des Innenohrs. Hier können schallverstärkende Hörgeräte nicht mehr helfen. An ihre Stelle treten Cochlea-Implantate, Gruppen von Elektroden, die den Hörnerv anregen. Dieser geht von besagter Cochlea aus, der Hörschnecke des Innenohres. Das Implantat wird unter Vollnarkose in den Schädel eingesetzt. Zum Innenteil gehört ein zweites Element mit Mikrofon und Signalprozessor, das am Kopf getragen wird. Es nimmt Sprache und Töne auf und schickt sie in Form digitaler Signalen weiter nach innen.
Das Cochlea-Implantat ist also digitale Elektronik im Körper. In dieses Feld gehört ebenso das Retina-Implantat. Die Retina oder Netzhaut sitzt im Inneren des Auges und wandelt Licht in Nervensignale um; letztere werden von den Augen ans Sehzentrum im Gehirn weitergeleitet. Retina-Implantate ersetzen die lichtempfindlichen Zellen der Netzhaut und ermöglichen im Erfolgsfall eine grob verpixelte Sicht der Welt. Die subretinalen Implantate erhalten Lichtimpulse durch das Auge des Patienten, die epiretinalen Modelle über eine Videokamera.
Cochlea-Systeme sind heute weit verbreitet. Eine Statistik nannte 45.000 Einsetzungen im Jahr auf der ganzen Welt. In Deutschland gibt es eine Benutzer-Gemeinde mit Zeitschrift. Dagegen befinden sich die unterschiedlichen Retina-Implantate noch im Versuchsstadium. Wer sich für eine solche Sehhilfe interessiert, kann sich an die Retina Implant AG in Reutlingen oder ans Unternehmen Pixium Vision in Paris wenden. Pixium hat eine informative Homepage, die in deutscher Sprache vorliegt.
Einigermaßen erprobt ist die tiefe Hirnstimulation. Sie basiert auf Elektroden, die in den Schädel eingeführt werden, und wird vor allem bei Parkinson-Erkrankungen angewandt. Laut Wikipedia tragen 6.000 Patienten in Deutschland einen „Hirnschrittmacher“. Ein wesentlich angenehmeres Thema ist der digitale Sensor, der auf die Haut gesetzt wird, um Blutzuckerwerte zu messen. Ebenfalls hautnah arbeiten Chips, die Medikamente zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Mengen freisetzen. Solche Systeme liefert die amerikanische Microchips Biotech Inc.
Implantat-Fans können sich einen Speicherchip auch in Deutschland einspritzen lassen, nicht ins Hirn, sondern unter die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger. Möglich macht es Digiwell in Hamburg. Die Chips kommen dabei aus den USA von der Firma Dangerous Things. Hier befinden wir uns dann in der Subkultur der Biohacker oder Grinder. Das nächste Welttreffen der „Schleifer“ findet im November in Helsinki statt. Den ernsthaften Freunden der Bioinformatik empfehlen wir aber in der TU München den Heinz-Nixdorf-Lehrstuhl für medizinische Elektronik.