Das war die neue Mathematik
Geschrieben am 09.06.2017 von HNF
In den frühen 1970er-Jahren wurde in der Bundesrepublik der Mathematikunterricht reformiert. Es begann die Zeit der Mengenlehre. Nach einem Jahrzehnt kehrten Lehrer und Schüler aber wieder zum gewohnten Rechnen zurück. Von der einst neuen Mathematik zeugen heute noch Sammlungen von Schulbüchern und Lehrmitteln in einigen Universitäten. Zu nennen sind vor allem Berlin, Paderborn und Koblenz-Landau.
Angefangen hat alles vor rund 140 Jahren an der Universität Halle. Hier wirkte der junge Mathematiker Georg Cantor und türmte zwischen 1874 und 1884 ein imposantes Theoriegebäude auf: die Mengenlehre. Als Menge galt ihm jede Zusammenfassung bestimmter, wohlunterschiedener Objekte der Anschauung oder des Denkens. Aus dieser Definition und Operationen wie Vereinigung, Durchschnitt und Komplementbildung gewann er verblüffende Erkenntnisse, mit denen er sogar die Unendlichkeit zähmte.
Unter seinen Kollegen erntete Georg Cantors Konzept viel Zustimmung. Es löste aber auch heiße Diskussionen und teilweise wüste Polemiken aus. Unter anderem wurde er als Verderber der Jugend gebrandmarkt. Derart geschmäht, erkrankte der Gelehrte im Alter an manischer Depression und starb 1918 in einem Sanatorium. Immerhin erlebte er noch mit, wie sich die Mengenlehre als Fundament der modernen Mathematik etablierte.
In den 1960er-Jahren hielt sie Einzug in die Schulen Amerikas. Der Sputnik-Schock von 1957 setzte in den USA allerlei bildungspolitische Reformen in Gang. Eine war die New Math, die Grundprinzipien der Logik, der Zahlentheorie und der Mengenlehre ins Fach einführte. Doch schon 1962 protestierten Experten in einem offenen Brief gegen die Pläne. Der Politsänger Tom Lehrer, selbst studierter Mathematiker, verulkte sie in einem Chanson. Die New-Math-Kritik „Why Johnny Can’t Add“ von Morris Kline lässt sich hier nachlesen.
Die öffentlichen Debatten machten der Neuen Mathematik schwer zu schaffen. In den frühen Siebzigern war sie in den USA so gut wie tot. Besser erging es ihr in Europa; hier wurde sie von der Weltwirtschaftsorganisation OECD und der UN-Bildungsbehörde UNESCO gefördert. Auch passte die Reform-Mathematik zum westeuropäischen Zeitgeist, der teils von Aufbruchstimmung und Zukunftsglauben und teils von der Furcht geprägt war, in Wissenschaft und Technik hinter die USA zurückzufallen.
Am 3. Oktober 1968 beschloss die westdeutsche Kultusministerkonferenz einstimmig, die Rechenkunde in allen Schulen zu modernisieren. Spätestens im Schuljahr 1972/73 sollten Grundschüler Georg Cantors Ideen kennenlernen. Schon 1969 starteten Versuchskurse in Nordrhein-Westfalen. Verlage brachten Druckwerke, Spiele und Filme zum Thema heraus. Der bekannte Wissenschaftsautor Walter R. Fuchs verfasste 1970 ein Buch „Eltern entdecken die neue Mathematik“. Ein Jahr später folgte „Eltern entdecken die neue Logik“.
Insgesamt geschah die Einführung der Mengenlehre – das Schlagwort bildete sich schnell heraus – aber recht uneinheitlich. In West-Berlin wurden fast alle Erst- und Fünfklässler in der neuen Mathematik unterrichtet, in NRW blieben zwei von drei ABC-Schützen beim alten Stil. Skepsis herrschte unter Fachdidaktikern und akademischen Mathematikern. In der Universität Bonn etwa wurde die Grundschul-Mengenlehre als Kartoffelkunde verspottet. Im September 1972 prangerte die New-Math-freundliche ZEIT die verschlampte Reform an.
Es mehrten sich die kritische Stimmen und die schlechten Nachrichten. 1974 fragte der SPIEGEL sorgenvoll: Macht Mengenlehre krank? Die wurde zu diesem Zeitpunkt bereits Schritt für Schritt demontiert: In NRW und Baden-Württemberg galten Hausaufgabenverbote, in Schleswig-Holstein durfte Cantors Theorie nur 15 Prozent des Matheunterrichts füllen. Das Ende kam 1984. NRW-Kultusminister Hans Schwier befahl seinen Grundschulen den Verzicht auf Mengen-Sprache und -Symbole. Ähnlich verfuhren die übrigen Bundesländer.
Die 1980er-Jahre beendeten nicht nur die Grundschul- und Unterstufen-Mengenlehre, sie brachten auch kleine Computer und preiswerte Taschenrechner. Bei ihrer Bedienung zählte weniger die neue als die klassische Mathematik. Die revolutionären Erkenntnisse von Georg Cantor stimmen natürlich nach wie vor, ebenso die Regeln der mathematischen Logik und der Zahlentheorie. Verstehen und genießen kann man sie aber nur, wenn man zuvor das „normale“ Rechnen lernte.
Völlig verschwunden ist die neue Mathematik nicht. In didaktischen Sammlungen kann der Historiker ihren Nachlass erforschen, zum Beispiel im Institut für Mathematik der Universität Koblenz-Landau. Die zugehörigen Fotos ergeben eine echte Zeitreise. Manche Objekte wie der Abakus, das Galton-Brett oder das Roulette sind natürlich länger bekannt. Reizvoll ist der „Minicomputer“ des belgischen Mathematikers Georges Papy mit seinen Halmafiguren. Über ihn steht hier etwas mehr.
Die Stadt Paderborn ist nicht nur die Heimat des HNF, sondern auch einer Universität und des Mathe-Treff. Lehramtsstudenten können dort Bücher und Zeitschriften ausleihen und zudem didaktische Materialen. Die Liste ist nicht neu aber lang, und wir entdecken vieles aus der goldenen Ära der Mengenlehre. Punkt 360 ist der Spielcomputer Logikus, der anno 1968 herauskam. Er allein lohnt den Besuch der Paderborner Adresse, selbst wenn er keine Mikrochips, sondern nur Drähte und Glühbirnchen enthielt.
Die drei Fotos oben zeigen Objekte der mathematik-didaktischen Sammlung der FU Berlin. Nach wie vor erhältlich sind die logischen Blöcke des ungarisch-englischen Mathematikers Zoltan P. Dienes. Zu seinem Leben und Werk existiert eine informative Internetseite. Eine gute wissenschaftshistorische Aufarbeitung der Neuen Mathematik liefert die Diplomarbeit von Brigitte Bogensberger. Eine bunte Mengenlehre-Uhr steht am Berliner Europa-Center. Mit der Theorie von Georg Cantor hat sie aber nur wenig zu tun.