Der verschwundene Computer: SEL ER 56

Geschrieben am 19.08.2022 von

In den 1950er-Jahren gründete die Standard Elektrik Lorenz AG ein Informatikwerk in Stuttgart-Zuffenhausen. Dort entstand ab 1959 der Transistorrechner ER 56. Er besaß einen Kernspeicher und eine Magnettrommel; gebaut wurden von ihm nur neun Stück. Ein ER 56 erzeugte in der TH Stuttgart künstlerische Grafiken, ein anderer war der erste Computer in einer chilenischen Hochschule.

In den späten 1950er-Jahren endete die Zeit der Röhrenrechner, die von Geräten mit Transistoren abgelöst wurden. Im Blog behandelten wir die Electrologica X1, die IBM 1401, die Siemens 2002 und das Mailüfterl von Heinz Zemanek; wir erwähnten auch die Buchungsmaschine Continental der Exacta GmbH, für die Heinz Nixdorf eine Recheneinheit mit Halbleitern lieferte. Heute kommt ein weiterer deutscher Computer hinzu, der ER 56 der Standard Elektrik Lorenz AG SEL. Das Kürzel ER bedeutet „Elektronischer Rechenautomat“.

Der Automat entstand im Informatikwerk der Firma in Stuttgart-Zuffenhausen – die SEL AG erfand bekanntlich das Wort Informatik. An der Entwicklung wirkte der Physiker Karl Steinbuch mit; er entwarf schon 1957 einen transistorbestückten Spezialrechner für ein Versandhaus. Um die Peripheriegeräte kümmerte sich der Ingenieur Wilfried de Beauclair. Er hatte lange beim Darmstädter Analogrechner-Pionier Alwin Walther gearbeitet und ging später zum Posttechnischen Zentralamt. De Beauclair starb 2020 im Alter von 108 Jahren.

Der SEL-Computer war 1959 fertig; hier ist ein Fachartikel zu ihm. Der ER 56 operierte im Dezimalsystem und besaß einen modular aufgebauten Arbeitsspeicher mit Magnetkernen. Er fasste bis zu 10.000 siebenstellige Zahlen. Anschließbar waren ein Trommelspeicher für 12.000 Zahlen, mehrere Bandlaufwerke, Ein- und Ausgabe-Einheiten für Lochstreifen sowie Lochkartengeräte und Drucker. Additionen dauerten zwischen 0,2 und 1,1 Millisekunden, eine Multiplikation konnte bis zu 2,3 Millisekunden beanspruchen.

„Hommage à Paul Klee“ programmierte Frieder Nake 1965 für den ER 56 der TH Stuttgart. (Copyright Victoria and Albert Museum London, Frieder Nake)

Insgesamt wurden neun ER-56-Rechner gebaut; drei blieben beim Hersteller. Dieses Foto zeigt einen von ihnen; es stammt aus dem Nachlass des Computerlyrik-Spezialisten und damaligen SEL-Mitarbeiters Theo Lutz. Vier weitere Anlagen gelangten in die Universitäten Bonn und Köln sowie in die Technischen Hochschulen von Karlsruhe und Stuttgart. Die Stuttgarter Maschine wurde in der Universität Kaiserslautern weiter genutzt. Ein ER 56 lief beim Postscheckdienst in Nürnberg und einer in Chile – zu ihm erzählen wir gleich mehr.

1966 besuchte das TV-Magazin Panorama den Stuttgarter ER 56. Der Film begann mit einem malenden Äffchen; danach brachte er die künstlerische Aktivitäten des Computers und des angeschlossenen Zuse-Plotters. Wir sehen außerdem den jungen Frieder Nake, der das Grafikprogramm schrieb; hier steht mehr darüber. Bei den angeblich vom Rechner erstellten Gedichten handelte sich jedoch um Werke der IBM 7090 des Deutschen Rechenzentrums Darmstadt. Die Software für die „Autopoeme“ verfasste der Linguist Gerhard Stickel.

Eine besondere Rolle spielte der ER 56 in der Technikgeschichte Südamerikas. 1962 erwarb die Ingenieurschule der Universität von Chile ein Exemplar; der Kaufpreis ist noch bekannt: 1.380.320 DM. Der Rechner stand in der Hauptstadt Santiago und war der erste in Chile für wissenschaftliche Anwendungen. Mit dem Elektronenrechner kam als Fachberater der Ingenieur Wolfgang Riesenkönig, der dann sechs Jahre mit seiner Familie im Lande blieb. Wer Spanisch versteht, findet in diesem Artikel zusätzliche Informationen. „Lorenzo“, wie der Computer in Chile hieß, wurde in den 1970er-Jahren verschrottet.

Konsole eines ER 56 – das Bild vergrößert sich nach Anklicken. (Foto Reinhard Kirchner, Technische Universität Kaiserslautern)

Wie es scheint, gibt es auch keinen anderen ER 56 mehr. Im Internet kann man Fotos und Dokumente aufrufen, die der Informatiker Reinhard Kirchner in Kaiserslautern sammelte; leider ist er 2021 verstorben. Wir danken Dr. Bernd Schürmann vom Fachbereich Informatik der TU Kaiserslautern für die Erlaubnis, das obige Bild im Blog nutzen zu können. Unser Eingangsbild zeigt natürlich einen ER 56; es stammt aus dem Buch Rechnen mit Maschinen, das Wilfried de Beauclair im Jahr 1968 publizierte. Es handelt sich höchstwahrscheinlich um ein Pressefoto der Standard Elektrik Lorenz AG.

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3 Kommentare auf “Der verschwundene Computer: SEL ER 56”

  1. Wie gewohnt ein sehr gut recherchierte und spannender Artikel über diesen frühen Computer in der Bundesrepublik. Gerne hätte ich aber mehr über den Verbleib erfahren, der oben angekündigt wurde. Das ist eine spannende Geschichte, die Tom Haigh für den ENIAC ja in ENIAC in Action nachzeichnet: Warum ist der Computer verschwunden? Wo wurde er zuletzt gesehen? Was ist mit seinen Teilen? So ist zumindest bekannt, dass die Magnettrommel des Rechners noch erhalten ist. Erste Ansatzpunkte bietet folgender sehr spannende Foreneintrag: https://de.alt.folklore.computer.narkive.com/Esc54Vx5/infos-zur-sel-er56#post1

    Zweitens eine Frage zum Namen: die 56 kam aus dem Jahr 1956 oder worauf referiert sie?

    1. Benjamin Athens sagt:

      Vielen Dank für die Anfrage, aber leider wissen wir nichts über den Ursprung der Zahl 56 und auch nichts zum Schicksal der acht in Deutschland verbliebenen ER-56-Rechner. Der Computer in Chile wurde definitiv verschrottet.

  2. Arturo Castillo sagt:

    ER-56 kommt angeblich aus „Elektronischen Rechenanlage von 1956“

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