Der Großvater unter den Computern

Geschrieben am 30.04.2021 von

Zuletzt trug er den Namen WITCH, also Hexe, doch eigentlich ist er der Opa unter den Digitalrechnern. Der Harwell Dekatron Computer, wie er auch genannt wurde, enthält Relais und Röhren; er nahm im April 1951 in einem englischen Atomforschungszentrum den Dienst auf. Er steht mittlerweile in einem Museum in Bletchley Park und funktioniert noch immer.

Nach dem Zweiten Weltkrieg richtete auch England ein Zentrum zur Erforschung der Atome ein. Das Atomic Energy Research Establishment oder AERE wurde am 1. Januar 1946 auf einem ehemaligen Flugplatz der Royal Air Force eröffnet. Es liegt zwanzig Kilometer südlich von Oxford; nach einem benachbarten Dorf wurde das Zentrum oft nur Harwell genannt.

Eine Abteilung, die sich der Atomtheorie widmete, erhielt 1948 ein Rechenbüro, das der Mathematiker Jack Howlett leitete. Sein Vorgesetzter war der Physiker Klaus Fuchs. Howlett und seine Kollegen benutzten mechanische Rechenmaschinen; die Elektronik-Abteilung des AERE ging aber 1949 den Bau eines größeren Geräts an. Der Harwell Dekatron Computer führte im April 1951 die ersten Operationen aus und wurde im Mai 1952 offiziell eingeweiht. Klaus Fuchs saß inwischen im Gefängnis, denn er hatte für die Sowjetunion spioniert.

In der ersten Ausbaustufe besaß der Harwell-Computer nur die beiden Speichermodule ganz links. In der rechten Hälfte sitzen die Kästen mit den Relais.

Der Computer stand im Kontrollturm der früheren RAF-Basis. Im Rechen- und Steuerwerk steckten 138 Röhren und Hunderte von Relais. Dazu kamen neun Speichermodule. Jedes enthielt 18 Relais und 90 Dekatrone, Zählröhren zur Aufnahme einer Dezimalziffer. Ein Modul fasste zehn achtstellige Dezimalzahlen samt Vorzeichen, alle Module speicherten also 90 Zahlen oder durch Zahlen codierte Befehle. Die Eingabe geschah über Lochstreifen, die Ausgabe per Fernschreiber. Voll ausgebaut wog der Rechner zweieinhalb Tonnen.

Der Harwell-Computer war nicht schneller als ein Mensch an der Rechenmaschine, er konnte aber tagelang durcharbeiten. Er operierte bis 1956 im Forschungszentrum, danach wurde er durch eine vor Ort gebaute Transistormaschine und einen Elektronenrechner der British Tabulating Machine Company ersetzt. Das AERE bot den alten Computer interessierten Fach- und Hochschulen zur Übernahme an. Es bewarben sich vierzig Institutionen; Gewinner der Ausschreibung und neuer Nutzer war die heutige Universität von Wolverhampton.

Ein Speichermodul des Computers: Die gerade benutzten Zählröhren leuchten.

Hier erledigte der Rechner nahezu 100.000 Stunden lang seine Arbeit, von Dezember 1957 bis März 1973. In der Hochschule hieß er WITCH, zu Deutsch Hexe; die Abkürzung stand für „Wolverhampton Instrument for Teaching Computing from Harwell“. Kurz vor dem Ende seiner Zeit wurde er als ältester noch diensttuender Computer ins Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen. Anschließend kam er ins Technikmuseum von Birmingham. Nach der Schließung des Museums im Jahr 1997 wurde WITCH zerlegt und in ein Depot gebracht.

Dort entdeckte ihn 2009  der Informatiker Kevin Murrell, der zwei Jahre zuvor das Nationale Computer-Museum TNMOC in Bletchley Park mitgegründet hatte. Die eingelagerten WITCH-Teile wurden ins TNOMC gefahren und wieder zusammengesetzt. Im November 2012 waren Rekonstruktion und Restaurierung abgeschlossen, und die Hexe rechnete wie an ihrem ersten Tag. 2013 folgte der zweite Eintrag ins Guinness-Buch, nunmehr als ältester noch funktionierender Elektronenrechner. Ein Video aus Bletchley Park zeigt ihn in Aktion.

Der Computer, jetzt WITCH genannt, in Wolverhampton. (Foto Pierre Lecourt CC BY-NC-SA 2.0)

In diesem April begeht der Computer-Opa aus Harwell den 70. Geburtstag, zu dem wir ihm alles Gute und weitere erfolgreiche Jahre wünschen. Dokumente aus seiner Jugend stehen hier – bitte etwas scrollen. In den ältesten Texten wird er noch als „Computor“ bezeichnet. Das Eingangsbild ganz oben und das Foto des Speichermoduls nahm HNF-Geschäftsführer Dr. Jochen Viehoff in Blechtley Park auf.

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7 Kommentare auf “Der Großvater unter den Computern”

  1. Interessanter Beitrag. „ Dazu kamen neun Speichermodule. Jedes enthielt 18 Relais und 90 Dekatrone, Zählröhren zur Aufnahme einer Dezimalziffer.“ rechnet der Computer dann Dezimal, ähnlich wie der sowjetische SETUN? Oder war es ebenfalls ein Binär Rechner?

    1. HNF sagt:

      In diesem Artikel https://www.computerconservationsociety.org/witch5.htm heißt es: „Use of these tubes [gemeint sind die Dekatron-Röhren] permits the computor to work on a decimal, rather than a binary, basis. This is convenient from several points of view; it is particularly advantageous in a parallel computor, since the number of digits and therefore the number of parallel arithmetical units, is considerably reduced.“

  2. Gabriele Sowada sagt:

    Mich erfreut etwas ganz Nebensächliches am HNF-Kommentar: Das zweite „o“ im Wort „computor“. So habe ich es 1969 auch noch gelernt, als ich meine erste Bekanntschaft mit diesen Geräten machte. 😉

  3. Ansgar Erlenkötter sagt:

    Sehr schöner Artikel – danke.
    Der Stromverbrauch wäre noch interessant – auch wenn die Dekatronröhren wohl nicht mit klassischen Röhren mit Heizdrähten vergleichbar sind.

    1. About 1.5kW. Mains volatage.

  4. The WITCH is located at The National Museum of Computing on the Bletchley Park site, not at the Bletchley Park museum. You can visit TNMoC separately.

  5. Ein solches Dekatron enthielt auch der erste elektronische Tischrechner ANITA, siehe Bericht in Historische Bürowelt Nr. 114 (2018).

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