Der Lieferwagen für das Internet
Geschrieben am 05.12.2017 von HNF
In den 1970er-Jahren rollte ein silberner Kastenwagen durch das Silicon Valley. Das Fahrzeug gehörte dem Forschungsinstitut SRI und trug Antennen auf dem Dach; seine Insassen führten Versuche zur Datenübertragung durch. Am 22. November 1977 wirkte es bei einem Experiment mit, das die USA mit England und Norwegen verband und ein mehrere Netze umfassendes Internet schuf.
In Amerika ist ein „Bread Truck“, auch „Multi-Stop Truck“ oder „Step Van“ genannt, ein kantiger Lieferwagen für Lebensmittel, Speiseeis oder Postpakete. Das geräumige Innere erlaubt ein schnelles Be- und Entladen, ohne dass der Kopf ans Dach stößt. Manchmal lässt sich eine Seitenwand hochklappen, wodurch der Transporter zum Verkaufsstand wird. In einer Nebenbedeutung kann das Wort auch einen Geldtransporter bezeichnen.
In den 1970er-Jahren rollte ein solcher Truck durch die Gegend, die schon damals als Silicon Valley bekannt war. Er kam vom Stanford Research Institute SRI aus Menlo Park südöstlich von San Francisco. Das SRI wurde 1946 als Teil der Stanford-Universität gegründet; seit 1970 arbeitete es selbstständig in der Auftragsforschung. Besondere Kennzeichen des Wagens waren die Antennen und Elektronikboxen auf dem Dach und die silberne Lackierung mit nur einem kleinen Namenszug.
Die Fast-Anonymität mag damit zu tun gehabt haben, dass der Wagen auch bei Aktivitäten fürs Militär mitwirkte. So startete 1973 ein Projekt zur drahtlosen Erweiterung des ARPANET. Das digitale Netzwerk existierte seit 1969; das SRI war eines der vier Gründungsmitglieder. Der Initiator war die Forschungsabteilung ARPA – ab 1972 DARPA – des amerikanischen Verteidigungsministeriums. 1976 verband das ARPANET rund hundert Computer im ganzen Land; im März 1977 waren es genau 111.
Das ARPANET basierte auf terrestrischen Verbindungen und stationären Rechnern. Soldaten marschieren aber gerne, und die Verbreitung der Mikroelektronik führte zu der Überlegung, ob man nicht Computer mitnehmen und im Felde einsetzen könnte. 1973 beauftragte die ARPA das SRI mit der Entwicklung des PRNET oder Packet Radio Network. Dieses Funknetz sollte wie das bereits vorhandene ARPANET arbeiten. Texte und Sprache wurden in digitale Daten umgewandelt und paketweise versendet. Beim Empfänger wurden die Pakete dann wieder zusammengesetzt.
Für das neue Netz rüsteten die SRI-Experten den zu Beginn erwähnten Lieferwagen aus. Allem Anschein nach handelte es sich um einen „Value Van“ Baujahr 1971 von GMC, der Nutzfahrzeugfirma im General-Motors-Konzern. Im Inneren befanden sich ein Minicomputer von Digital Equipment, ein Terminal mit Monitor, zwei Funkgeräte sowie Schreibtisch und Klimaanlage. Im Laufe des Jahres 1976 fanden schließlich praktische Tests im Freien statt. Die große Bewährungsprobe kam am 27. August 1976.
An jenem Tag fuhr der Transporter ins bergige Umland südwestlich des Silicon Valley. An der Alpine Road stand seit 1852 das kalifornische Äquivalent eines Biergartens; 1956 erhielt er den Namen Alpine Inn. Hier kehrte das SRI-Team ein und baute auf einem der Tische die Sendeanlage auf. Eine Mitarbeiterin gab nun den Wochenbericht der Funknetzforscher ein. Er lief über Kabel zum geparkten Truck, wurde in Datenpakete umgewandelt und via Packet Radio an die SRI-Zentrale in Menlo Park geschickt.
Dort gelangten die Daten ins ARPANET und fanden sich am Ende an zwei Adressen wieder, der Technikfirma BBN in Cambridge, US-Bundesstaat Massachusetts, und der Universität von Südkalifornien in Marina del Rey. Den Wechsel von einem Netz ins andere ermöglichte ein zwei Jahre zuvor erfundenes Übermittlungsverfahren, das Transmission Control Protocol oder TCP. Seine beiden Entwickler, die Ingenieurwissenschaftler Robert Kahn und Vinton Cerf, arbeiteten 1976 in der DARPA.
Nach dem erfolgreichen Experiment vom Sommer 1976 wurde im alpinen Biergarten eine Gedenktafel aufgehängt. Sie spricht vom Beginn des Internetzeitalters, denn das Internet ist eben kein einzelnes Netz, sondern verknüpft viele unterschiedliche Systeme. Das zeigte sich eineinviertel Jahr später bei einem weiteren Experiment mit dem Truck. Am 27. November 1977 brauste er durchs Silicon Valley und setzte eine nicht näher bekannte Botschaft ab, die bis zum Empfang durch drei Netze ging. Rein technisch waren es sogar noch mehr.
Die Daten aus dem „Bread Truck“ passierten das drahtlose PRNET und das ARPANET – dabei übersprangen sie den Atlantik – und kehrten über das paketvermittelte Satellitennetz SATNET ins ARPANET zurück. Endpunkt war wieder die Universität von Südkalifornien. Man kann sich streiten, ob das Internet mit dem Zwei-Netze-Test von 1976 oder dem Drei-Netze-Versuch von 1977 anfing. Wichtig ist auf jeden Fall, dass das TCP-Verfahren, erweitert um das Internet-Protokoll IP, als „Tiessiepieh-Eipieh“ zur Grundlage des Netzes der Netze wurde.
Der Internet-Transporter tat bis in die späten Achtziger seine Dienste für die IT-Forschung und wurde dann auf dem Institutsgelände abgestellt. Anlässlich einer Supercomputer-Konferenz, die im November 1997 im Silicon-Valley-Ort San Jose stattfand, machte ihn das SRI wieder flott; anschließend erhielt ihn das im Aufbau befindlichen Computer History Museum. Da der Wagen Platz braucht, erstellte SRI für das Museum ein maßstabgetreues Modell. Informative Videos und Fotos zu den Ereignissen vor 40 Jahren gibt es noch hier. (Alle Bilder unseres Beitrags sind aus dem Archiv des Computer History Museums.)
Es ist erstaunlich zu sehen, wie ein Fahrzeug, das normalerweise für Geldtransporte oder den Transport von Lebensmitteln genutzt wird, eine so wichtige Rolle bei der Entstehung des Internets spielte. Diese ungewöhnliche Verwendung eines „Brotwagens“ zeigt, wie vielseitig und überraschend Innovationen entstehen können. Die Geschichte erinnert daran, dass große Entwicklungen oft aus unerwarteten Quellen stammen und verdeutlicht die Bedeutung von Experimenten und Entdeckungen in der Wissenschaftsgeschichte.