Der Pilz der denken kann
Geschrieben am 26.07.2024 von HNF
Ein Computer enthält Relais, Röhren, Transistoren oder Chips. Ein Analogrechner besitzt elektrische oder elektronische Elemente, die ausgestorbenen Fluidik-Rechner arbeiteten mit Ventilen für Gase und für Flüssigkeiten. Mutter Natur gab uns aber einen „alternativen Computer“ in Form des Schleimpilzes. Er zeigt ebenfalls ein intelligentes Verhalten. Seit dem Jahr 2000 werden seine erstaunlichen Fähigkeiten im Labor erforscht.
Der wissenschaftliche Name lautet Physarum polycephalum, was man durch „Körper mit vielen Köpfen“ übersetzen könnte. Er gehört zu den Myxomyceten, von Laien wird er meist Schleimpilz genannt. Engländer und Amerikaner sagen „slime mold“. Es handelt sich aber nicht um einen Pilz wie den Pfifferling oder den Champignon, sondern um einen Einzeller und entfernten Verwandten der Amöbe.
Im September 2000 startete die Karriere von Physarum polycephalum in der Informatik. Damals veröffentlichte der Biologe Toshiyuki Nakagaki aus Nagoya zusammen mit einem Elektroniker aus Sapporo und einer ungarischen Chemikerin einen Aufsatz in der Fachzeitschrift Nature. Er schilderte einen amöben-artigen Organismus, der einen Weg durch ein Labyrinth fand. Es maß vier mal vier Zentimeter, sein Boden bestand aus Agar, einem in der biologischen Forschung oft verwendeten Geliermittel.
Zu Beginn des Experiments setzte Nakagaki einen Schleimpilz in das Labyrinth; außerdem platzierte er an zwei Stellen Haferflocken. Der Pilz breitete sich aus und verspeiste die Flocken. Dadurch veränderte sich seine Struktur. In mehreren Stunden schrumpfte er zu einem Faden zusammen, der genau die zwei Plätze der Haferflocken verknüpfte und so kurz wie möglich war. Abzweigungen, die in Sackgassen endeten, und längere Verdoppelungen des Weges verschwanden. Die Rechenleistung des Pilzes ist oben im Eingangsbild skizziert.
Damit folgte Physarum polycephalum der Labyrinthmaus, die der amerikanische Ingenieur und Mathematiker Claude Shannon in den frühen 1950er-Jahren konstruierte. Etwa zur gleichen Zeit entdeckte der russische Forscher Boris Beloussow die später nach ihm und seinem Kollegen Anatoli Schabotinski benannte Reaktion, die zu sichtbaren Strukturen in chemischen Lösungen führte. Ein westdeutscher Lehrfilm von 1980 verband sie bereits mit dem Verhalten von Schleimpilzen; sie treten bei Minute 7:05 auf.
1995 erschien dann eine Forschungsarbeit zur Beloussow-Schabotinski-Reaktion in einem Labyrinth. Wenn man scharf hinschaut, sieht man, wo Toshiyuki Nakagaki seinen Irrgarten fand. Es war das Verdienst des japanischen Biologen, die älteren Erkenntnisse in eine neue Form zu kleiden, die die Öffentlichkeit ansprach. Schlagzeilen machte der Schleimpilz 2010. In einem Experiment sollte er ein Wegenetz für eine Region ermitteln, die der Umgebung von Tokio entsprach. Am Ende fand er die Routen der dortigen U-Bahn.
Seitdem ist Physarum polycephalum ein populäres Forschungsobjekt in aller Welt, und immer wieder werden neue Fähigkeiten entdeckt. So attestierte eine Studie der TU München und des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation 2021 dem Schleimpilz ein Gedächtnis ohne Gehirn. Zudem errang er den Titel Einzeller des Jahres. Wer ihn selbst untersuchen möchte, kann ihn auf Amazon oder als „slime mold“ auf etsy.com bestellen. Angebote aus dem Lehrmittelhandel gibt es hier, er lebt aber auch im deutschen Wald.
Die Informatiker führen den Schleimpilz unter den alternativen Computern. 2010 kam zu ihm ein Buch heraus, das nicht ganz billig ist, das ist aber ein kostenloser Übersichtsartikel von 2015. Nicht vergessen dürfen wir den Film The Blob, in dem 1958 ein schleimiges Monster auftrat. Er kann hier angeschaut werden. Der Blob zog ähnliche Kreaturen nach sich; Horror-Fans erinnern sich vielleicht an die aggressive Amöbe, die 1966 die Insel des Schreckens heimsuchte. Völlig ungefährlich dürfte dagegen der Slime Mold Simulator sein.