Die Stasi und die Spielcomputer
Geschrieben am 20.05.2022 von HNF
Mikrocomputer und Computerfreaks gab es in den 1980er-Jahren sowohl in West- als auch in Ostdeutschland; die Nerds von Ost-Berlin trafen sich im Haus der jungen Talente in der Klosterstraße. Ihre Leidenschaft wurde von offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit genau verfolgt; Berichte darüber stehen im Netz. Die Stasi interessierte sich besonders für Spielprogramme.
Das Stasi-Unterlagen-Archiv bildet seit Juni 2021 einen eigenen Bereich im Bundesarchiv; wichtigster Standort ist der Gebäudekomplex des früheren Ministerium für Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg. Das Archiv ging aus dem BStU hervor, dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Vor kurzem beleuchtete das Archiv in einem Online-Artikel die Computerszene der Spätzeit der DDR. Der Titel lautete Spielefans unter Beobachtung.
Der Beobachter war – man kann es sich denken – die DDR-Staatssicherheit. Der Artikel brachte verschiedene Dokumenten zu ihren computerbezogenen Aktivitäten. Einige waren schon durch einen Beitrag der ZEIT von 2018 bekannt; der Fernsehfilm „Auferstanden aus Platinen“ enthielt 2019 sogar Videoaufnahmen aus dem alten Ost-Berlin. Im Folgenden möchten wir die vom Stasi-Unterlagen-Archiv freigegebenen Papiere näher betrachten; außerdem empfehlen wir die Lektüre des genannten Artikels im Internet.
Wir beginnen mit einem Papier der Zentralen Arbeitsgruppe Geheimnisschutz ZAGG vom April 1988; es kam von Oberleutnant Wilfried Fetsch. Demnach war der Besitz privater Computertechnik stark angestiegen und hatte eine Größe von „zehntausenden“ erreicht. Hardware aus dem NSW – das Kürzel stand für „Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet“ – nahm eine führende Stellung ein. Das Papier verzeichnete aber ebenso DDR-Computer wie den KC 85/3 aus unserem Eingangsbild. Er ist inzwischen im HNF zu sehen.
Für 1.200 Computerbesitzer konnte Oberstleutnant Fetsch die Herkunft angeben. Zwei Drittel wohnten in Berlin und Potsdam, ein Drittel lebte in der übrigen Republik. Es verwundert die geringe Zahl von 64 Usern in Dresden. Hier hätten wir wegen Robotron und der Technischen Universität mehr erwartet. Die Informationen zu den „NSW-Verbindungen“ der User wurden vermutlich durch Postkontrolle gewonnen. Die überwiegende Zahl der ostdeutschen Mikrocomputer lief allerdings in Betrieben, Organisationen, Clubs und Jugendzentren.
Ein solches befand sich in den 1980er-Jahren in der Berliner Klosterstraße. Ins Haus der jungen Talente strömten jeden Mittwochabend die Computerfreaks von nah und fern, um Vorträge anzuhören und die Rechner zu nutzen. Manche Besucher brachten auch eigene Geräte mit. Organisator und Moderator der Treffen war der junge Maschinenbau-Ingenieur Stefan Seeboldt. Er erhielt etwas Geld vom Staat und durfte nichtsozialistische Hard- und Software erwerben. Am Rande jedes Meetings wurden Programme kopiert, bis die Laufwerke glühten; an erster Stelle standen natürlich Spiele.
Aus dem September 1987 sind zwei Listen mit Software überliefert, die im Haus der jungen Talente getauscht wurde. Die erste Liste führte die englischen Namen auf, die zweite deutsche Übersetzungen. Das Wort INDEX kennzeichnete Spiele, die die im Text erwähnte Quelle für besonders militärisch und inhuman hielt. Das Anschreiben vor den Listen unterzeichnete Oberst Manfred Leistner, der in der Hauptverwaltung Aufklärung arbeitete, also für die DDR-Auslandsspionage. Seine Abteilung XV hatte die westdeutsche Rüstungsindustrie, die Raketenforschung und den Maschinenbau im Visier.
Zwei Berichte zum Leben und Treiben in der Klosterstraße entstanden im Januar 1988, man findet sie hier und hier. Sie entstammten der Hauptabteilung XX/2 der Stasi, die sich unter anderem der Jugend widmete. Ihre Quelle war ein Nachwuchs-Agent, der noch die Schule besuchte; im Text hieß er „der A.“. Den dritten Report erstellte im Juli 1989 die Abteilung II der Stasi-Bezirksverwaltung; sie war für die Spionageabwehr zuständig. Er ging auf einen inoffiziellen Mitarbeiter zurück, der einige Male das Haus der jungen Talente besuchte. „Operativ-relevante Erscheinungen“ oder gar Spione entdeckte der IM keine.
Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass die DDR-Staatssicherheit die Nerds in Ruhe ließ. Hellhörig wurde sie jedoch bei Online-Übertragungen. Das ZAGG-Papier vom Frühjahr 1988 bemerkte: „In letzter Zeit hat sich der Trend verstärkt, dass Besitzer von privater Computertechnik an Unterlagen über Akustikkoppler interessiert sind… Innerhalb der DDR konnte bereits der private Einsatz derartiger Technik nachgewiesen werden.“ Konkret befürchtete die Stasi einen unkontrollierten Datentransfer ins kapitalistische Ausland.
Kurz nach dem Mauerfall sagte Stefan Seeboldt in einem Interview mit der taz: „Es war de facto, bis vor drei Monaten, noch verboten, Computerdaten über Telefon auszutauschen. Verbot in dem Sinne, dass, wenn man einen Antrag auf den Betrieb eines Modems oder eines Akustikkopplers gestellt hat, wurde der abgelehnt. Und unsere Telefone hatten sehr große Ohren. Ich kenne Beispiele, wo zehn Minuten nach einem Koppelversuch Besuch vor der Tür stand, und das endete in der Regel mit der Konfiszierung der Anlage.“
Damit möchten wir das Thema Internet im Sozialismus vorerst abhaken. Modems gab es durchaus in der DDR, aber nicht für die Computerfreaks in der Klosterstraße. Erlaubt wurden 1980 das Bildschirmspiel 01 und 1986 der Videoautomat Poly-Play; auch zu ihm liegt ein Dokument im Stasi-Unterlagen-Archiv. Der Computerclub im Haus der jungen Talente schloss 1990, ein kleiner Ersatz ist das Computerspielemuseum in Berlin-Friedrichshain. Wir schließen mit einem Link zum Bundesarchiv, das in genau zwei Wochen seinen 70. Geburtstag feiert.
Ein NCAG Kollege hatte in den späten 80er Jahren einen in der IT arbeitenden Brieffreund (Familie?) „drüben“. Plötzlich wurde der Kontakt einseitig komplett abgebrochen. Auf Umwegen kam heraus, dass der Freund den Kontakt Stasi getrieben abbrechen musste, seit er an einer DEC VAX 750 (eine kleine Variante der damals sehr verbreiteten VAX 780) arbeiten durfte. Eine kranke Zeit!