Die Welt auf der Karteikarte
Geschrieben am 24.02.2017 von HNF
1895 begann der junge belgische Jurist Paul Otlet, eine Sammlung von Katalogkarten anzulegen. Das Universelle Bibliographische Verzeichnis sollte alle Schriften der Wissenschaft erfassen. 1934 füllten über 15 Millionen Karten die Schränke seines Instituts in Brüssel. Nach der Schließung des „Mundaneums“ geriet Paul Otlet in Vergessenheit; er starb 1944. Er gilt heute als Vordenker des Internets.
Einst stand er in jeder Bibliothek: der Katalog mit Karten. 12,5 cm breit und 7,5 cm hoch füllten sie Schublade neben Schubladen in Schränken oder Kästen. Die Karten gaben den Inhalt der Bücherei an und waren alphabetisch nach Autoren geordnet. Wissenschaftliche Bibliotheken besaßen einen Schlagwortkatalog oder einen systematischen Katalog. Ihre Karten führten zu Büchern oder Fachartikeln, die bestimmte Themen behandelten.
Vor der Einführung von Computerkatalogen erschlossen die Kärtchen zusammen mit gedruckten Bibliographien das Wissen der Welt. Im späten 19. Jahrhundert eroberten sie die Bibliotheken. Parallel dazu schufen kluge Köpfe Systeme, um das Wissen zu ordnen. Der amerikanische Bibliothekar Melvil Dewey erfand 1876 die Dezimalklassifikation. Sie operiert mit Gruppen und Untergruppen, die Ziffern tragen. Wenn 5 für die Naturwissenschaften und 52 für die Astronomie steht, dann ist 523 die beschreibende Astronomie.
1895 machte sich ein junger belgischer Jurist mit dem Dewey-System vertraut. Paul Otlet war Jahrgang 1868 und aus guter Familie: der Vater wurde durch Straßenbahn-Unternehmen zum Millionär. Er studierte Rechtswissenschaft in Löwen und Brüssel; ab 1890 arbeitete er für den Advokaten und Schriftsteller Edmond Picard. Glücklich machte ihn sein Job aber nicht; viel mehr interessierte ihn das Buch- und Bibliothekswesen. Einen verwandten Geist fand er in seinem älteren Kollegen Henri La Fontaine, mit dem er ab 1891 zusammenarbeitete.
Ein gemeinsames Projekt der beiden war das Internationale Institut für soziologische Bibliographie. Für seine Schriften erstellten Otlet, La Fontaine und ihre Mitstreiter bis 1894 rund 100.000 Karteikarten. Die Entdeckung der Dezimalklassifikation führte sie auf einen neuen Weg. 1895 wurden in Brüssel das Internationale Bibliographische Institut und das gleichnamige Büro gegründet. Ihr Ziel war das Universelle Bibliographische Verzeichnis oder RUB (Répertoire Bibliographique Universel). Fördergelder kamen vom Staat.
Das RUB sollte das Wissen der Welt auflisten und erschließen. Es war in gewissem Sinne die erste globale Suchmaschine. Die systematische Grundlage war eine Erweiterung des Dewey-Systems, die Universelle Dezimalklassifikation. Ganz konkret bestand das Verzeichnis aus Tausenden von Schubladen, die die bekannten Katalogkärtchen enthielten. Im Lauf der Zeit kamen mehr als 15 Millionen Stück zusammen. Weitere Kartotheken erfassten Bilder und Dokumente. Unser Eingangsbild zeigt die Brüsseler RUB-Zentrale um 1900.
Die glücklichsten Jahre des Projekts lagen vor dem 1. Weltkrieg. Paul Otlet und sein Freund Henri La Fontaine waren hervorragend vernetzt, die Karteikarten vermehrten sich stetig; bibliographische Konferenzen folgten aufeinander. Eine besondere Ermutigung bedeutete der Friedensnobelpreis, den La Fontaine 1913 erhielt; außerdem brachte er Geld in die Kasse. Ausgezeichnet wurde vor allem La Fontaines Einsatz für den internationalen Pazifismus, doch seine RUB-Aktivitäten spielten sicher auch eine Rolle.
Der 1. Weltkrieg bremste das Universelle Verzeichnis, stoppte es aber nicht. Die Karteikarten wanderten in ein prächtiges Gebäude im Brüsseler Jubelpark, das ab 1924 Mundaneum hieß. Paul Otlet träumte von einer zukünftigen Stadt des Wissens; Planzeichnungen lieferte unter anderem der Architekt Le Corbusier. 1934 beendete aber die belgische Regierung die Förderung, und das Mundaneum schloss. Otlet blieb nur das Schreiben. Sein Hauptwerk Traité de Documentation erschien ebenfalls 1934. Er starb 1944 in Brüssel.
Nach dem 2. Weltkrieg geriet Paul Otlet in Vergessenheit. Wiederentdeckt wurde er in den 1970er-Jahren vom australischen Bibliothekswissenschaftler Boyd Rayward. 1975 legte er eine detaillierte Biographie Otlets vor; 1990 übersetzte er eine Sammlung seiner Aufsätze ins Englische. Darunter befindet sich auch ein Vorschlag für Mikrofilm-Kataloge aus dem Jahr 1906. In seinen letzten Lebensjahren entwarf Otlet Informationsnetze mit Telefon und Fernsehen und einen Arbeitsplatz für Informationssuchende, die Mondothek.
Heute gilt Paul Otlet als Vordenker des World Wide Web und der Suchmaschinen. Seit 1998 kann man in der belgischen Stadt Mons ein neues Mundaneum besuchen, das seinen Nachlass aufbewahrt. Hier stehen auch alte Karteischränke des RUB. In Zusammenarbeit mit Google bietet das Museum überdies exzellente Online-Ausstellungen an. Unten steht Paul Otlets Mondothek, von ihm selbst gezeichnet.
Hinweis: die New York Times berichtete am 17. Juni 2008 unter dem Titel „The Web Time Forgot“ ausführlich über Paul Otlet und das Mundaneum. In einem kurzen TIMESVIDEO wird die gezeichnete Vision eines Kommunikationsnetzwerkes à la Otlet auf berührende Weise deutlich.
Im übrigen sind auch die persönlichen Zettelkästen von Persönlichkeiten wie den Schriftstellern Ernst Jünger und Arno Schmidt, dem Soziologen Niklas Luhmann und dem Philosophen Hans Blumenberg papierne Datenbanken mit Hypertextstruktur.