Ebbe und Flut
Geschrieben am 06.09.2019 von HNF
In den 1870er-Jahren erfand der irisch-schottische Physiker William Thomson, der spätere Lord Kelvin, den analogen Gezeitenrechner. Das mechanische Rechengerät sagt den Verlauf von Ebbe und Flut für einen beliebigen Ort auf der Erde voraus und bringt ihn als Kurve zu Papier. Der erste Gezeitenrechner hierzulande wurde 1915 fertig. Er steht im Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven.
Seit Millionen Jahren heben sich die Meeresspiegel im Rhythmus von Ebbe und Flut. In der Neuzeit wurde der Tidenhub für Häfen aufgezeichnet; das erlaubte ungefähre Voraussagen. 1775 fand der Franzose Pierre-Simon Laplace eine befriedigende mathematische Theorie. 1873 baute William Thomson einen Gezeitenrechner. Thomson wurde 1824 im nordirischen Belfast geboren, seine Vorfahren kamen aus Schottland. Später erhielt der Physiker einen Adelstitel. Er starb 1907 als Lord Kelvin.
Physik und Mathematik der Gezeiten möchten wir einmal überspringen. Thomsons Maschine berechnete Formeln vom Typ (A x cos a + B x cos b + C x cos c + …). Unser Eingangsbild (Foto DSM/Niels Hollmeier) zeigt die Mechanik, die das erledigt; sie gehört zu einem deutschen Gezeitenrechner, den wir noch erläutern werden. Jedes Rad sitzt auf einem Schieber, der sich periodisch aufwärts und abwärts bewegt. Er ist mit einem Rad im rückwärtigen Teil verknüpft. Dessen Drehung wird in die vertikale Bewegung des Schiebers umgesetzt.
Die Positionen der Räder auf den Schiebern werden mechanisch summiert; das Ergebnis ist in der Kurve ablesbar, die ein Stift auf ein Papierband zeichnet. Wir sehen das sehr schön in einer Animation. (Bitte nicht mit Matarani starten, sondern zunächst einen anderen Ort wählen.) Ein Gezeitenrechner ermittelte so in einigen Stunden den Verlauf von Ebbe und Flut für ein Jahr. Der Output galt für einen bestimmten Hafen. Als Inputs musste man jeweils die Partialtiden einstellen; sie wurden aus den beobachteten Wasserständen abgeleitet.
Die ersten Gezeitenrechner entstanden in England und den USA. Deutschland benutzte für seine Häfen englische Daten. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden sie nicht mehr geliefert. Das Reichsmarineamt beauftragte deshalb die Potsdamer Feinmechanik-Firma Otto Toepfer & Sohn mit dem Bau eines eigenen Rechners. Wissenschaftlicher Berater war der Geodät Friedrich Kühnen. Die Maschine wurde dann 1915 im Marineobservatorium in Wilhelmshaven aufgestellt. 1919 kam sie nach Hamburg in die Deutsche Seewarte.
In den 1930er-Jahren erhielt der Gezeitenrechner ein elektrisches Druckwerk. 1941 zog das Marineobservatorium mit der gesamten Ausrüstung von Wilhelmshaven nach Greifswald um. Dort stand der Rechner wahrscheinlich in der Universität. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelangte er zurück nach Hamburg und ins Deutsche Hydrographische Institut, das heutige Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie. Der letzte Umzug erfolgte 1975 in das neue Deutsche Schifffahrtsmuseum von Bremerhaven.
Hier wird der Gezeitenrechner seit dem Frühjahr 2019 gründlich restauriert. Tim Lücke vom Sächsische Industriemuseum kommt jeden Monat für eine Woche an die Küste und nimmt die Maschine stückweise auseinander. Die Einzelteile werden demontiert, gereinigt und wieder eingebaut. Eine besondere Herausforderung sind die tausend Zahnräder auf der Rückseite des Rechners. Die gesamte Restaurierung findet im Neubau des Museums vor den Augen der Besucher statt. Sie soll Anfang 2020 abgeschlossen sein.
Die Experten möchten die Maschine auch zum Laufen zu bringen. Im Schifffahrtsmuseum gibt es noch einen zweiten mechanischen Gezeitenrechner. Er wurde von 1952 bis 1955 in Babelsberg im VEB Lokomotivbau Karl Marx und beim Feinmechanik-Werk des VEB Geräte- und Regler-Werke Teltow gebaut. Der acht Tonnen schwere Koloss arbeitete anschließend im Seehydrographischen Dienst der DDR in Warnemünde. Einen weiteren großen Rechner aus den 1930er-Jahren – siehe unten – verwahrt das Deutsche Museum in München.
In der Geschichte des Computers bilden die Gezeitenmaschinen nur eine Seitenlinie im analogen Feld. Ihre Aufgaben erledigt mittlerweile eine App für das Smartphone. Erwähnen müssen wir noch James Thomson, Ingenieurprofessor in Glasgow und der ältere Bruder von William Thomson. Als der seinen Gezeitenrechner schuf, beschrieb James ein System zum Integrieren. William erweiterte es zu einem Mechanismus, der Differentialgleichungen löste; so erfand er die Urform des modernen Analogrechners. Fürwahr eine kreative Familie.