Konrad Zuse, Heinz Nixdorf und das Schwundgeld
Geschrieben am 29.11.2016 von HNF
Konrad Zuse erfand den Computer; seine Rechner führten die junge Bundesrepublik ins IT-Zeitalter. Heinz Nixdorf war Pionier der dezentralen Datenverarbeitung; er gründete und leitete die erfolgreichste deutsche Computerfirma. Beide Männer interessierten sich als Studenten für die Lehren von Silvio Gesell. Der Kaufmann, Volkswirtschaftler und Sozialreformer wollte durch „Freigeld“ mit negativen Zinsen eine neue Wirtschaftsordnung schaffen.
„Nationalökonomie ist, wenn die Leute sich wundern, warum sie kein Geld haben.“ So beginnt eine Satire des Schriftstellers Kurt Tucholsky von 1931. Sein Kurzer Abriß der Nationalökonomie ist immer noch lesenswert, denn er behandelt ein ewiges Thema – die Geheimnisse der Wirtschaft. Die zugehörige Wissenschaft, auch Volkswirtschaftslehre oder VWL genannt, vermag diese nur unvollkommen zu erklären, ganz zu schweigen von der Frage, warum wir kein Geld haben.
Als Tucholskys Text in Berlin erschien, lebte dort ein junger Mann, der sich ebenfalls um die Volkswirtschaft sorgte. Konrad Zuse hatte 1928 am Realgymnasium in Hoyerswerda das Abitur gemacht. Danach begann er das Studium an der Technischen Hochschule in Charlottenburg. 1931 unterbrach er es für ein Jahr und arbeitete als Grafiker in der Berliner Filiale der Autofirma Ford. Zuse las viel und beobachtete das politische, ökonomische und soziale Geschehen. Deutschland steckte in der Weltwirtschaftskrise. 1932 wurde das schlimmste Jahr mit sechs Millionen Arbeitslosen im Februar.
Zuse hielt noch Kontakt zu Lehrern seines Gymnasiums, vor allem zu Studienrat William Meyer. Am 29. März 1932 schickte er ihm einen langen Brief nach Hoyerswerda. Ein Entwurf dazu liegt in seinem wissenschaftlichen Nachlass im Deutschen Museum; der Berliner Informatiker Raúl Rojas setzte ihn 2013 online. Zuse erwähnt zu Beginn das Buch „Der internationale Jude“, das in den 1920er-Jahren unter dem Namen von Henry Ford herauskam. Es stammte von einem Ghostwriter, gab aber durchaus korrekt den Antisemitismus des Autokönigs wieder.
Konrad Zuse nahm den Inhalt des Buchs für bare Münze. Er zog jedoch eine eigenartige Konsequenz: „Ich habe jetzt folgenden Plan gefasst, den ich Sie aber einstweilen für sich zu behalten bitte: Ich will Henry Ford kurzer Hand die Idee des Schwundgeldes mitteilen.“ Damit bezog sich Zuse auf ein Werk, das 1916 in Druck erschien: Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld von Silvio Gesell. Allem Anschein nach hatte ihn William Meyer zur Lektüre gebracht. Nach anfänglicher Skepsis war Zuse von Gesells Gedankengebäude total überzeugt.
Wer war Silvio Gesell? Geboren wurde er 1862 als Sohn eines Beamten im damals deutschen und heute belgischen Sankt Vith. Er führte ein wechselhaftes Leben in Deutschland, in Argentinien und in der Schweiz. Sein Geld verdient er teils als Kaufmann, teils als Landwirt, teils als Schriftsteller. Er starb 1930 in Oranienburg. 1919 war Gesell eine Woche Finanzminister der kurzen Münchner Räterepublik. Seine gesammelten Werke umfassen 18 Bände plus Register, man kann sie gratis herunterladen.
Gesells Grundidee war, die Wirtschaft durch einen schnellen Warenaustausch in Schwung zu halten. Die Bürger sollten ihr Geld nicht horten, sondern ausgeben. Dazu trug ein Reformgeld bei, das jede Woche ein Tausendstel seiner Kaufkraft einbüßte. Gesell dachte hier ganz konkret an kleine Marken, die man auf einen Reformgeldschein kleben musste; dann behielt er den konstanten Wert. Die Zettelwirtschaft im wahrsten Sinne des Wortes wurde auch Freigeld oder Schwundgeld genannt.
In den 1930er-Jahren erprobten Gemeinden in Deutschland und in Österreich regionale Währungen, die nach den Prinzipien Silvio Gesells funktionierten. In seinem Brief erwähnt Konrad Zuse den niederbayrischen Ort Schwanenkirchen. Dort galt 1930 und 1931 das Papiergeld Wära und führte tatsächlich zu einem Wirtschaftsaufschwung. Am 30. Oktober 1931 stoppte das Reichsfinanzministerium das Experiment. Auf ähnliche Weise endete 1933 das wirtschaftliche Wunder von Wörgl in Tirol.
Vermutlich wollte Konrad Zuse in seinem angedachten Brief an Henry Ford eine Freigeld-Einführung vorschlagen. Ob er den Brief aber schrieb, wissen wir nicht. In seiner Autobiographie Der Computer mein Lebenswerk kam er 1984 auf jene Zeit zurück: „Die unterschiedlichsten Strategien zur Belebung des Geldumlaufs waren in der Diskussion […] Manche der damals unter uns kursierenden Ideen mögen einen vernünftigen Hintergrund gehabt haben; was aber ihre praktische Durchführbarkeit anging, waren sie allesamt wirklichkeitsfremd und phantastisch.“ (pdf-Seite 8)
Nicht wirklichkeitsfremd und nicht phantastisch erschienen Gesells Ideen dem jungen Heinz Nixdorf. Das wissen wir aus einem Artikel über ihn, der 1984 in der ZEIT stand. Autorin Nina Grunenberg berichtete darin über die Zeit, als Nixdorf in Frankfurt Physik studierte. Er hörte außerdem Betriebswirtschaftslehre und erfuhr wohl in einem Seminar von Gesells Freigeld-Buch. Bei der Lektüre traf ihn ein Aha-Erlebnis. Es könnte sich später auf seine Tätigkeit als Unternehmer ausgewirkt haben.
Nina Grunenberg: „Das Postulat Gesells, Geld nicht als Wertaufbewahrungsmittel und persönliches Eigentum zu betrachten, sondern als Verpflichtung, Arbeitsplätze zu schaffen und Leute in Lohn und Brot zu bringen, muß auf Nixdorf einen tiefen Eindruck gemacht haben. Es berührte ein Schlüsselerlebnis: die Arbeitslosigkeit seines Vaters, eines kleinen Reichsbahnangestellten, im Jahre 1931. Heinz Nixdorf war gerade sechs Jahre alt und hatte noch vier Geschwister, die ernährt werden wollten.“
Den ZEIT-Artikel las ein Gesell-Anhänger aus Neustadt bei Hannover namens Tristan Abromeit. Er wandte sich daraufhin an Heinz Nixdorf, was einen kurzen Briefwechsel auslöste. Am 27. August 1984 bestätigte Nixdorf sein Interesse für Gesell. Danach bekannte er sich allerdings zur Marktwirtschaft Erhardscher Prägung und schloß: „Zu den Lehren von Silivo Gesell möchte ich erst wieder Stellung nehmen, wenn es mir gelungen ist, mittels der spärlich vorhandenen Literatur, mir einen einigermaßen guten Überblick zu verschaffen.“
Nach zwei Briefen von Tristan Abromeit meldete sich Heinz Nixdorf erneut und schrieb zurück: „Die Ratlosigkeit der Politiker von heute macht die Arbeiten von Silvio Gesell immer moderner.“ Das war seine letzte schriftliche Äußerung zu unserem Thema. In seiner Nixdorf-Biographie überliefert Christian Berg noch ein Zitat aus einer Rede Nixdorfs von 1985: „Das muss einmal aufhören, das Sparen. Wir müssen uns bekennen zum Konsumieren.“
Als Fazit bleibt, dass die Lehre des Geldreformers aus Sankt Vith die zwei Computerpioniere verband. Und sicher hätten sich beide für die smarte Banknote der Hochschule Ostwestfalen-Lippe in Lemgo interessiert. Auf ihr werden chemische Substanzen aufgebracht, die optisch veränderbar sind und als Speicher dienen können. So kann die Banknote Informationen aufnehmen und abgeben. Also genau das Richtige für ein Frei- und Schwundgeld des 21. Jahrhunderts.