Kybernetik und Ästhetik

Geschrieben am 31.07.2018 von

Kunst kommt angeblich von Können. Da Computer alles können, sind sie auch künstlerisch tätig oder werden selbst zu Kunstwerken. Vor fünfzig Jahren bewiesen das gleich mehrere Ausstellungen. Am 2. August 1968 startete in London die bis heute bekannte Schau „Cybernetic Serendipity”. Über 130 Künstler, Dichter, Komponisten und Wissenschaftler zeigten die Beziehungen zwischen Kultur und Informationstechnik.

“Wohin kann man in London einen Hippie, einen Programmierer und einen zehn Jahre alten Schuljungen mitnehmen und sicher sein, dass sie eine Stunde absolut glücklich sind, ohne dass man einen Finger dafür krümmen muss?“ Diese Frage stellte am 2. August 1968 die Londoner Abendzeitung „Evening Standard“. Die Antwort lautete: Cybernetic Serendipity. Auf Deutsch heißt das so viel wie kybernetische Überraschung oder unverhoffte Entdeckung. Es war der Titel einer großen Ausstellung, die an jenem Tag ihre Pforten öffnete.

Der Ort war eine der besten Adressen der Metropole, 12 Carlton House Terrace im Stadtteil St. James’s. Dort saß das ICA oder Institute of Contemporary Arts. Allerdings zeigte es keine Werke, so wie man sie in Kunstmuseen sieht, sondern elektronische Skulpturen, rollende Roboter, blinkende Lichtgebilde, zeichnende Pendel und ein kybernetisches Theater, dazu computergenerierte Musik, Grafiken, Gedichte, Filme und Tänze sowie menschgemalte Rechner-Bilder. Vorangestellt war eine kurze Einführung in die Digitaltechnik.

Verantwortlich für das technich-künstlerisch-didaktische Schauspiel war Jasia Reichardt. Sie wurde 1933 in Warschau geboren und konnte 1942 aus dem Warschauer Ghetto fliehen. 1945 kam sie nach England, ging dort zur Schule und studierte; anschließend arbeitete sie bei einer Kunstzeitschrift. Von 1963 bis 1971 war sie stellvertretende Direktorin des ICA und in dieser Funktion Kuratorin der „Cybermetic Serendipity“. Den Anstoß für die Ausstellung soll der deutsche Philosoph Max Bense gegeben haben.

Jasia Reichardts Projekt stand im Sommer 1968 nicht allein. Ende Juli organisierte die Technische Universität Berlin eine Ausstellung zur Computerkunst, die die Wochenschau festhielt – bitte zu Minute 2:43 springen. Kleinere Ausstellungen fanden in der Tschechoslowakei, in Jugoslawien und in Japan statt. Das Mega-Kunstereignis des Jahres, die vierte documenta, verzichtete dagegen auf Elektronenrechner. Es gab in Kassel nur ein funktechnisches Exponat von Joseph Beuys, das gleichfalls im Video erhalten ist.

Das Cover des Begleitbuchs entwarf Franciszka Themerson, eine Tante von Jasia Reichardt. (Foto Ars Electronica CC BY-NC-ND 2.0)

Zur „Cybernetic Serendipity“ entstand 1968 ein Film, in dem auch Jasia Reichardt auftritt. Die kybernetische Musik ertönt hier. Die Hauptquelle bildet das Begleitbuch: Dieses findet man ganz am Ende der Archivseite – Achtung, dicke Datei. Wir entdecken darin die Großen der Computerkunst wie die „Drei N“ Frieder Nake, Georg Nees und Michael Noll, die Kinetik-Meister Frank Malina, Nicolas Schöffer und Jean Tinguely, Star-Komponisten wie John Cage, Karlheinz Stockhausen und Iannis Xenakis und den Video-Guru Nam June Paik.

Das Online-Archiv der britischen Wochenschau dokumentiert neben Nicolas Schöffer den Roboterbauer Bruce Lacey und den Digitalmusiker Peter Zinovieff. Der schönste Film zeigt den Vergißmeinnicht-Computer von Rowland Emett. Er ging auf einen Auftrag der US-Firma Honeywell zurück und ist eine der lustigsten Parodien der Informatik, die jemals geschaffen wurde. Emett starb 1990 und ist nicht vergessen; seit 2010 gibt es einem ihm gewidmeten Verein. Von seinem kybernetischen Theater aber fehlt jede Spur.

Aus der Bunderepublik ist ein Artikel der ZEIT überliefert, der kurz nach der Eröffnung von „Cybernetic Serendipity“ erschien. Der Reporter übte eine vorsichtige Kritik am didaktischen wie auch am künstlerischen Teil, empfahl aber einen Besuch. Zitat: „Im Moment jedenfalls stehen wir Besucher den Computern noch ungefähr so gegenüber wie Höhlenmenschen einer Dampflokomotive in ihrer Halle: Wir sind beeindruckt und erregt, aber wenn wir uns einbilden, die Sache nun auch wirklich mitbekommen zu haben, dann ist das nichts als schöne Selbsttäuschung.“

Lassen wir einmal offen, ob es heute anders ist. Als die Kybernetikschau am 20. Oktober 1968 die Pforten schloss, hatten sie 60.000 Besucher gesehen. Etwas reduziert wurde sie 1969 in Washington und im Science-Center Exploratorium in San Francisco gezeigt. 2014 veranstaltete das Institute of Contemporary Arts einen kleinen Rückblick; im YouTube-Clip sehen wir auch Jasia Reichardt wieder. Bis zum 18. November 2018 erinnert das Londoner Victoria and Albert Museum an die Computerkunst von 1968 und davor.

Eingangsbild: kybernetische Skulptur Chronos 10B von Nicolas Schöffer aus dem Jahr 1980  (Foto Rufus46 CC BY-SA 3.0 – der unteren Teil des Fotos wurde abgeschnitten)

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Ein Kommentar auf “Kybernetik und Ästhetik”

  1. Ulrich Klotz sagt:

    Sehr schöner Beitrag. Er weckt bei mir viele Erinnerungen an meine allerersten Tage an der TU Berlin. Und das schöne Zitat aus der ZEIT ist auch 50 Jahre später noch ziemlich aktuell – leider.

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