Mann des Jahres: der Computer

Geschrieben am 27.12.2022 von

Am 26. Dezember 1982 verkündete das amerikanische Nachrichtenmagazin TIME die alljährliche Hauptperson des Jahres. Es war kein Geschöpf aus Fleisch und Blut, sondern der Personal Computer. Nicht zum Zuge kam der junge Apple-Mitgründer Steve Jobs; er hatte sich Hoffnungen auf den Titel gemacht. Statt dessen musste er im Heft unangenehme Wahrheiten über sein Privatleben lesen.

Der erste Man of the Year war Charles Lindbergh. Er flog im Mai 1927 ganz allein mit einer winzigen Propellermaschine von New York nach Paris. Am Ende des Jahres verlieh ihm das Nachrichtenmagazin TIME die Auszeichnung, die dann zur Tradition wurde. 1936 gab es die erste Frau des Jahres, Wallis Simpson, die Verlobte des Kurzzeit-Königs Edward VIII. Später erhielten auch Gruppen jene Ehrung, so 1950 die US-Soldaten, 1960 die Wissenschaftler des Landes und 1975 die amerikanischen Frauen.

Dennoch überraschte, wer vor vierzig Jahren den Preis bekam. Es war der Computer, genauer gesagt, der Personal Computer für alle. Am 26. Dezember 1982 gab TIME die „Machine of the Year“ bekannt, am 3. Januar 1983 erschien das Heft mit der ausführlichen Begründung. Die Titelseite schmückte eine Gipsplastik des Bildhauers George Segal: der anonyme User vor dem ebenso anonymen Rechner. Wer das Cover ausfaltete, sah eine zweite Plastik, eine unbekannte Nutzerin mit einem etwas kleineren Gerät.

Die Laudatio auf die Maschine des Jahres verfasste Otto Friedrich, ein Sohn des deutsch-amerikanischen Politikwissenschaftlers und Harvard-Professors Carl Joachim Friedrich. Sie lässt sich hier nachlesen. Gleich zu Beginn teilte der Autor mit, dass 1980 zwei Dutzend Firmen 724.000 persönliche Computer verkauften und 1,8 Milliarden Dollar einnahmen. 1981 waren es zwanzig Firmen mehr; sie setzten 1,4 Millionen Geräte für knapp drei Milliarden Dollar ab. 1982 wurden daraus mehr als hundert Unternehmen, 2,8 Millionen Computer und Erträge von 4,9 Milliarden Dollar.

„The Computer Moves In“ – die Vorlage der TIME-Vorderseite  (Bild eines unbekannten Fotografen, National Portrait Gallery, Smithsonian Institution)

In Japan lagen die Verkaufszahlen 1982 bei 435.000, in Westeuropa bei 392.000 Systemen. In den USA hatten Nutzer per Internet Zugriff auf 1.450 Datenbanken, in amerikanischen Schulen standen mehr als 100.000 Computer. Otto Friedrichs Artikel brachte am Ende eine warnende Stimme, die des Informatiker-Philosophen Joseph Weizenbaum. Er beklagte eine Tunnel-Vision, die nur Probleme wahrnimmt, die in den Computer passen, und alle anderen ignoriert. Das Schlusswort sprach aber der Hersteller Adam Osborne: „Die Zukunft gehört Computern, die die Menschen gar nicht mehr als Computer erkennen.“

Diesen Zustand habe wir, siehe Smartphone, heute erreicht. 1982 gab es noch viele echte Computer; ein kürzerer TIME-Artikel stellte einige Produzenten vor. Neben Osborne waren das IBM-Präsident John Opel, Commodore-Chef Jack Tramiel und Clive Sinclair aus England; erwähnt wurde außerdem Dan Bricklin, der Schöpfer der Büro-Software VisiCalc. Ein weiterer Beitrag listete die „hottest-selling hardware“ auf. Darunter fielen der ZX81, in Amerika Timex Sinclair 1000 genannt, sowie der Commodore VIC-20, die Ataris 400 und 800, der TI 99/4A, der kleine Epson HX-20 und das Modell III des TRS-80.

Zu den etwas teureren Verkaufshits gehörten der Apple II Plus, der IBM PC und der tragbare Osborne 1. Hauptautor Otto Friedrich – er verwendete nur eine Royal-Schreibmaschine – steuerte noch einen Text zum Hacker-Englisch bei. Der wohl interessanteste Artikel im Heft stammte von seinem TIME-Kollegen Jay Cocks. Er schrieb eigentlich Filmkritiken und stützte sich auf Recherchen von Michael Moritz. Letzterer leitete das TIME-Büro in San Francisco. Das Thema der beiden war niemand anderes als Steve Jobs.

Michael Moritz im Jahr 2013   (Foto Max Morse, TechCrunch CC BY 2.0)

Jobs und Moritz trafen sich 1982 im Silicon Valley. Der Apple-Mitgründer glaubte gegen Ende des Jahres, dass TIME ihn selbst als „Man of the Year“ ausrufen würde. Umso größer war der Schock, als er das Heft erhielt, das Cover sah und den Beitrag über sich las. Zum ersten Mal erfuhr die Öffentlichkeit vom „reality-distortion field“, das Steve Jobs nach Ansicht seiner Mitarbeiter umgab. Das Realitätsverzerrungsfeld – das Wort geht auf die Serie „Raumschiff Enterprise“ zurück – verschönerte und vereinfachte die Welt und brachte Probleme durch Zauberhand zum Verschwinden.

Der Artikel enthüllte Jobs‘ Drogenerlebnisse, und er sparte nicht mit bissigen Zitaten aus seinem Umfeld. Wir beschränken uns auf zwei: „Er wäre ein exzellenter König von Frankreich gewesen.“ und „Er sollte die Firma Walt Disney leiten.“ Jay Cocks berichtete auch von der Existenz einer unehelichen Tochter und ihrer Verleugnung durch Steve Jobs („28 Prozent der männlichen Bevölkerung der Vereinigten Staaten könnten der Vater sein“). Unterm Strich lieferte er ein wenig schmeichelhaftes Porträt des charismatischen Apple-Managers.

So sah die Computerwelt, verzerrt oder nicht, Ende 1982 aus. 1997 wählte TIME Intel-Chef Andy Grove zum Mann des Jahres. Später brachten es Jeff Bezos, Mark Zuckerberg und Elon Musk zur „Person of the Year“, wie die Ehrung ab der Jahrtausendwende hieß. Im Dezember 2006 wurden alle Gestalter und Gestalterinnen des World Wide Web ausgezeichnet, also auch anonyme Blogger. Den Lesern und Leserinnen des HNF-Blogs wünschen wir einen guten Rutsch, und wir kehren im Januar 2023 mit einem neuen Beitrag zurück.

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