Online 1930

Geschrieben am 07.08.2015 von

Wer 1930 wissen wollte, was in der Welt los war, las die Zeitung, hörte Radio oder sah im Kino die Wochenschau. Im gleichen Jahr entstand im Kopf eines Ingenieurs aus Offenbach aber schon eine Medien- und Online-Gesellschaft der Zukunft. Er legte das „Tomorrowland“ in einem Roman nieder, der die heutige Zeit in prophetischer Weise vorwegnahm.

Eigentlich war Ludwig Dexheimer Ingenieur. 1891 in Nürnberg geboren, zog er 1911 nach Offenbach am Main und arbeitete in einem Chemiewerk. Da er sich mit Sprengstoff auskannte, blieb ihm 1914 der Kriegsdienst erspart; er stieg in der Firma auf und durfte eine Abteilung leiten. 1929 wurde er aber im Zuge der Rationalisierung entlassen. Unter dem Pseudonym Ri Tokko schrieb er daraufhin einen dicken utopischen Roman und fand einen Verlag, der ihn Ende 1930 auf den Markt brachte.

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„Das Automatenzeitalter“ schildert auf 900 Seiten das Leben im Jahr 2500. Die gesamte Menschheit wohnt in der Automatenstadt, einem gigantischen Villenviertel, das von der Seine bis über die Oder und von der Nordsee zu den Alpen reicht. Hunger, Armut, Krankheit und schlechte Laune sind besiegt, und das Essen kommt per Rohrpost von der Zentralküche. Alle Produktionsprozesse laufen von selbst ab; kräftezehrende Jobs wie Kindererziehung werden von Robotern bewältigt, den Homaten.

Die 200 Millionen Automatenstädter ergehen sich in süßem Nichtstun, bereisen im Flugauto die Welt, feiern Feste und bilden sich weiter. Eine Stadt in der Stadt sind die Türme des Zentralmuseums: Hier ruhen die Schätze aller Kulturen sowie die Fotos, Filme, Tonaufnahmen, Bücher und Schriften, die im Laufe der Menschheitsgeschichte anfielen. Audio- und Videotechnik bringt das Material in jedes Haus, auch die Bücher, denn die liegen auf Mikrofilm vor und können durch Einschalten von Fernsehkameras aus der Ferne gelesen werden.

Statt sich an der Schreibmaschine zu plagen, spricht der Automatenbürger die Manuskriptzentrale an: Texte werden diktiert und analog gespeichert. Hier dachte Dexheimer nicht an das Tonband, sondern an ein Verfahren des Dänen Valdemar Poulsen, das Stimmen auf magnetisierten Drähten festhält. Datenschutz ist garantiert: Die Speicherdrähte dürfen nur im Beisein des Urhebers oder der Urheberin berührt werden, nach dem Tode werden sie ausnahmslos vernichtet.

Dass Dexheimer manches falsch vorhersagte, ist verständlich und verzeihlich. Digitale Netze sah er nicht voraus; bei ihm kommunizieren die 200 Millionen Menschen über ebenso viele Funkfrequenzen, eine technische Unmöglichkeit. Fraglich erscheint auch seine Prognose, dass die Online-Zeitungen vor allem Nachrichten zur Wissenschaft bringen, dazu etwas Sport, Literatur und Vergnügungsanzeigen. Insgesamt eilten aber die Visionen des Offenbachers, die wir an dieser Stelle nur anreißen können, ihrer Zeit weit voraus, ja, sie sind schlicht einmalig.

Nach der Publikation seines Romans blieb Dexheimer bis 1937 arbeitslos; in den 1950er Jahren finden wir ihn in einem Chemielabor der amerikanischen Armee. Er starb 1966; sein Grab auf dem Friedhof in Offenbach ist längst eingeebnet. „Das Automatenzeitalter“ wurde 1938 aus politischen Gründen verboten, 2004 erschien in Berlin eine kleine Neuauflage, die auf einem Typoskript basiert. Ri Tokko, der Urvater des Internets, muss von unserem Zeitalter erst noch entdeckt werden.

 

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Wir stellen diese Frage, um Menschen von Robotern zu unterscheiden.