Sara Turing und ihr Buch
Geschrieben am 19.11.2024 von HNF
Am 18. November 1881 wurde Ethel Sara Stoney in Südindien geboren; ihr Vater arbeitete als Ingenieur bei der Eisenbahn. 1907 heiratete sie, 1912 kam ihr zweiter Sohn zur Welt, der spätere Computerpionier Alan Turing. Nach seinem Tod verfasste Sara Turing eine Biografie, die im Jahr 1959 erschien. Sie war lange Zeit die einzig bekannte Lebensgeschichte.
Wer sich mit IT-Geschichte und dem englischen Mathematiker Alan Turing befasst, der kennt die wegweisende Biografie von Andrew Hodges aus dem Jahr 1983. Sie wurde ins Deutsche übersetzt und zählt zu den besten historischen Technikbüchern. Sie war aber nicht die erste Lebensgeschichte des Computerpioniers. Schon 1959 erschien „Alan M. Turing“, verfasst von seiner Mutter Sara Turing.
Als Ethel Sara Stoney am 18. November 1881 im südindischen Ort Podanur geboren wurde, gehörte das Land noch zum britischen Empire. Saras Vater arbeitete als Ingenieur für eine Eisenbahngesellschaft in Madras, dem heutigen Chennai. Das Mädchen wuchs bei Verwandten in Irland auf, ging in Dublin zur Schule und studierte ein halbes Jahr in Paris; ab 1900 wohnte Sara bei den Eltern in Indien. 1907 heiratete sie den in der britisch-indischen Verwaltung tätigen Julius Turing. Am 1. September 1908 kam der erste Sohn John zur Welt, am 23. Juni 1912 sein Bruder Alan.
Das geschah nicht in Indien, sondern in London. In den nächsten zehn Jahren lebte das Ehepaar Turing teils in England und teils in Indien, ab 1923 aus Steuergründen meistens in Frankreich. 1927 bezogen sie ein Haus in Guildford vierzig Kilometer südwestlich von London. Von den Turings existieren nur wenige Fotos; einige sind hier zusammengestellt. Erhalten sind außerdem eine Zeichnung, die seine Mutter 1923 vom jungen Alan Turing anfertigte, und ein Aquarell der Umgebung von Bethlehem aus den 1930er-Jahren.
Sara Turings Hauptwerk ist die Lebensgeschichte ihres Sohnes Alan. Sie begann mit der Niederschrift im Jahr 1956, zwei Jahre nach seinem Tod am 7. Juni 1954. Zu diesem Zeitpunkt gab es nur einen größeren Text über Alan Turing, den elf Seiten langen Nachruf, den der Mathematiker Max Newman 1955 für die Royal Society verfasste. Sara Turings Buch kam im Herbst 1959 im Verlag W. Heffer & Sons in Cambridge heraus. Es umfasste 170 Seiten, enthielt sieben Schwarzweiß-Fotos und kostete 21 Shilling, umgerechnet zwölf DM.
„Alan M. Turing“ bestand aus einem biografischen Teil mit dreizehn Kapiteln und einem wissenschaftlichen Anhang aus zwei Kapiteln. Das erste widmete sich Rechengeräten und brachte einen Vortrag von Alan Turing, Intelligent Machinery, A Heretical Theory. Er wurde 1951 im Rundfunk gehalten, der Abdruck war die Erstveröffentlichung. Das zweite Kapitel behandelte mit Auszügen aus wissenschaftlichen Artikeln und Briefen Alan Turings Theorie der Morphogenese. Diese sollte die Bildung biologischer Strukturen erklären.
Anlässlich Alan Turings 100. Geburtstag im Jahr 2012 erschien bei der Cambridge University Press eine erweiterte Neuausgabe von Sara Turings Werk. Das Exemplar des HNF ist oben in unserem Eingangsbild zu sehen – auf den Apfel gehen wir noch ein. Neben der Urfassung von 1959 und einem weiteren Vorwort finden wir einen bis dahin unpublizierten Aufsatz des am 21. Februar 1983 verstorbenen John Turing über seinen Bruder. Wer sich beim Internet Archive anmeldet, kann dort Alan M. Turing studieren.
Der Inhalt ist seit 1983 durch das dicke Buch von Andrew Hodges überholt. Es lohnt sich dennoch, in das ältere Werk hineinzuschauen und ein paar Seiten zu lesen, zum Beispiel das Kapitel über Alan Turings Aktivitäten im Krieg. So schrieb Sara Turing, dass er in Bletchley Park tätig war und hundert junge Damen unter sich hatte. Sie wusste auch von seiner USA-Reise 1942/43 und von seiner Arbeit zur Sprachverschlüsselung. Turings Mutter war wohl ebenso die Quelle der Geschichte, dass er aus Angst vor Heuschnupfen beim Radfahren eine Gasmaske trug.
Ihr Buch enthält weder einen Hinweis auf Turings Homosexualität – die ihr bekannt war – noch auf den Strafprozess, bei dem er zu einer medikamentösen Therapie verurteilt wurde. Es schilderte seine letzten Lebenstage und ließ die Ursache des Todes offen. Sara Turing hat aber stets bestritten, dass er sich vergiftete; sie nahm einen Zwischenfall bei Experimenten an, die er in seinem privaten Chemielabor anstellte. In ihrem Buch erwähnte sie natürlich den halbverzehrten Apfel, der neben seiner Leiche lag.
Das Ehepaar Turing trennte sich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Julius Turing starb 1947, Sara Turing überlebte ihn bis zum 6. März 1976. Papiere zu Alan Turing aus ihrem Nachlass sowie Briefe, die sie 1960 übergab, verwahrt das Archiv des King’s College der Universität Cambridge. Hier liegen auch Unterlagen zur Entstehung und zur Rezeption ihres Buchs. Wir schließen mit dem Apfel, der mittlerweile zum Mythos des Computerpioniers gehört und der, was kaum bekannt ist, niemals auf Giftspuren untersucht wurde.