Szenario 2015 – ein Blick in die Multimedia-Zukunft von gestern

Geschrieben am 02.10.2015 von

Das Wort des Jahres 1995 hieß „Multimedia“, und im Mai 1995 stellten Karlsruher Forscher eine 278 Seiten umfassende Studie über die Mythen, Chancen und Herausforderungen der so bezeichneten Technologien vor. Sie enthielt auch Voraussagen über die Welt von 2015 und dazu, wie die Menschen der Zukunft – also wir alle – die neuen multimedialen Möglichkeiten nutzen werden.  

Willkommen im Jahr 1995. Helmut Kohl ist Kanzler, die Bundeshauptstadt ist Bonn (aber der Umzug nach Berlin bereits beschlossen), und wir zahlen beim Kaufmann mit D-Mark und Pfennig. Viele Bürger haben einen Computer, und manche kommen sogar ins Internet. Die Zeitungen berichten oft von Datenautobahnen, und vor Weihnachten erklärt die Gesellschaft für deutsche Sprache „Multimedia“ zum Wort des Jahres. Denn: „Multimedia ist Leitwort für die Reise in die schöne neue Medienwelt.“

Jene Reise beschäftigte auch die Politiker, und der Bundestagsausschuss für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung beauftragte schon im Sommer 1994 das gleichnamige Büro beim Bundestag mit einer Vorstudie, die das Potenzial, die Anwendungen und die Probleme von Multimedia ausloten sollte. Im Mai 1995 lag der diesbezügliche Arbeitsbericht vor, im September der darauf basierende Bericht des Bundestagsausschusses und wenig später die Buchfassung, die ein Mannheimer Verlag herausbrachte.

„Multimedia – Mythen, Chancen und Herausforderungen“, so der vollständige Titel, zählt 278 Seiten und entstand nicht in Bonn, sondern im Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse des Forschungszentrums Karlsruhe. Die Autoren Ulrich Riehm und Bernd Wingert sahen Multimedia dabei als noch zu realisierende Kombination von Computer, Medientechnik und Interaktionsmöglichkeiten. Ihre Arbeit ist etwas TV-lastig, gibt aber ganz gut das Denken der frühen 1990er-Jahre wieder, das sich eher auf das Fernsehen mit Rückkanal als auf das World Wide Web konzentrierte.

Zwanzig Jahre nach Erscheinen hat die Vorstudie – zu einer Hauptstudie kam es nie – ein wenig Staub angesetzt, von Interesse sind aber vier kurze Abschnitte, die die Verfasser einem externen Gutachten entnahmen. Dieses trug den Titel „Multimedia im Privathaushalt“ und wurde vom oben genannten Bundestagsbüro beim Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin bestellt. Die Texte liefern ein Szenario 2015 und schildern eine Familie M. in einer Zeit, die von der Jahreszahl genau unserer Gegenwart entspricht. Da schließen wir uns doch gerne an!

Herr und Frau M. sind berufstätig. Ihre beiden Kinder, sieben und vier Jahre alt, haben sie aus der Ferne zunächst mit einem Vidifon (wohl ein Bildtelefon mit festen Kameras) beaufsichtigt, doch später eine echte Babysitterin engagiert. Die lieben Kleinen können aber über das Telegerät (das dürfte ein interaktiver Fernseher sein) das Multihandy (das müssen wir nicht erklären) kontaktieren, das Vater oder Mutter bei sich tragen. Mit dem Gerät kann man außerdem alles Mögliche einkaufen.

Herr M. ist in einem Work-Center tätig, einem Gebäude, das mehrere Tele-Arbeitsräume umfasst. Einige Insassen arbeiten für dieselbe Firma, manche für ganz andere Unternehmen. Am Nachmittag radelt Herr M. dann wieder nach Hause und setzt sich vor das Telegerät. Bei der Wahl des Kanals hilft das Teleberater-Programm, das die Vorlieben des Zuschauers ermittelt. Eine Sendung kann nach dem Start beliebig angehalten werden, doch die Werbespots quälen wie eh und je und lassen sich nur durch höhere Abo-Gebühren auf zwei pro Stunde reduzieren.

Am Ende treffen wir noch die Eltern von Frau M., Axel und Helga P., und ihre Krankenversicherung. Diese verfügt über ein multimediales Informations- und Servicesystem (das wäre im Buch die größte Annäherung ans Internet), über das ein Sachbearbeiter live im Telegerät erscheinen und Fragen beantworten kann. Alternativ bietet die Versicherung vorgefertigte Videos an. Dieser Text macht deutlich, wie stark die Datenautobahnen des Szenario 2015 dem damaligen Fernsehnetz folgen.

Und das gilt ebenso für die gesamte Multimedia-Vision, die unterm Strich gar nicht so falsch lag, doch das Potenzial der computerbasierten Netzwerke weit unterschätzte. Da war der Jahresrückblick 1995 der Tagesschau näher dran, der einen James-Bond-Imitator durch Internet und Compuserve schickte und nebenbei enthüllte, dass weltweit schon 40 Millionen Menschen die Netze als Informationsquelle nutzen würden. Zukunftsforscher irren sich eben oft, „Agent 08/15“ der Tagesschau aber nie.

 

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