Tutanchamun und die Mathematik
Geschrieben am 25.11.2022 von HNF
Vor hundert Jahren öffnete der englische Archäologe Howard Carter das Grab des jungen Pharaos Tutanchamun, der von 1333 bis 1323 vor Christus regierte. Zu jener Zeit gab es in Ägypten schon Kenntnisse von Rechenverfahren. Belege sind Papyri in mehreren Museen. Der schönste ist der Papyrus Rhind in London, ein kürzerer Text befindet sich in Berlin.
„ Carter nahm eine Eisenstange und stieß sie hindurch; sie schwenkte frei durch leeren Raum. Er machte ein paar Flammenproben; keinerlei Gase machte sich bemerkbar. Dann erweiterte er das Loch. […] Eine Ewigkeit verging für die, die neben ihm warteten. Dann konnte Carnarvon die Ungewißheit nicht mehr länger ertragen und fragte: ‚Können Sie etwas sehen?‘ Und Howard Carter wendet sich langsam um und sagt aus tiefster Seele, wie verzaubert: ‚Ja, wunderbare Dinge!‘ “
So schilderte C. W. Ceram in seinem Buch Götter, Gräber und Gelehrte die Öffnung des Grabs des Pharaos Tutanchamun im Tal der Könige bei Luxor. Der englische Archäologe Howard Carter und sein Finanzier Lord Carnarvon standen am 26. November 1922 an der Tür der Vorkammer; dahinter lag eine Fülle von Grabbeigaben. In der Folgezeit untersuchte Carter die gesamte Grabstätte – in Cerams Buch ist ein Plan – und natürlich den Sarkophag. Die Mumie des Königs mit der berühmten Goldmaske kam erst im Oktober 1925 ans Licht.
Tutanchamun regierte zwischen 1.333 und 1.323 vor Christus; er starb, als er noch keine zwanzig war. Mit ziemlicher Sicherheit konnte er lesen und schreiben, denn im Grab fanden sich Schreiberpaletten. Vermutlich erlernte er auch die Kunst des Rechnens. Arithmetische und geometrische Kenntnisse waren für die Beamten des alten Ägyptens unverzichtbar; die Gebildeten beherrschten ein Dezimalsysten und die Grundrechenarten. Beim Multiplizieren griffen sie auf eine Technik zurück, aus der die Russische Bauernmultiplikation wurde. Bei der Division liebten sie Stammbrüche mit einer 1 im Zähler.
Unser Wissen von der ägyptischen Mathematik verdanken wir in Stein gemeißelten oder auf Papyrus gemalten Zahlen und einer Anzahl von Texten, die meist ebenfalls auf Papyrus existieren. Der bekannteste ist der Papyrus Rhind im Britischen Museum; er wurde nicht nach einem alten Ägypter, sondern seinem Vorbesitzer im 19. Jahrhundert benannt, dem schottischen Anwalt Henry Rhind. Das Dokument besteht aus Teilen einer gut fünf Meter langen und 32 Zentimeter breiten Schriftrolle. Sie stammt aus der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends vor Christus.
Der Papyrus enthält zwei Rechentafeln und 84 mathematische Aufgaben, darunter sechs zur Geometrie von Pyramiden. Eine Übersicht liefert die englische Wikipedia; hier geht es zu einer deutschen Ausgabe aus dem Jahr 1877 und hier zu der amerikanischen von 1929 mit Fotos und Transkriptionen. Etwas älter als der Papyrus Rhind ist der Papyrus Moskau. Er misst 5,44 Meter mal acht Zentimeter und trägt 25 Aufgaben. Aus einer lässt sich der von den ägyptischen Rechenmeistern benutzte Wert für die Kreiszahl Pi ableiten: (16/9)² oder etwa 3,1605. Der echte Wert von Pi liegt bekanntlich bei 3,1416.
Einen mathematischen Papyrus gibt es auch im Neuen Museum in Berlin; er entstand um 1800 vor Christus und liegt in der ägyptischen Abteilung in der Nähe der Nofretete-Büste. Er zerfällt in viele kleine Stücke, das größte ist vierzehn Zentimeter breit. Eine der beiden im Papyrus gestellten Aufgaben umfasst zwei Gleichungen mit zwei Unbekannten, modern ausgedrückt x² + y² = 100 und x = ¾ y. Die Lösungen sind x = 6 und y = 8, was zu der Gleichung 36 + 64 = 100 oder 6² + 8² = 10² führt.
Wussten die Ägypter vielleicht schon vom Satz des Pythagoras, nach dem die Quadrate der kürzeren Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks das Quadrat der längeren Seite ergeben? Das ist in der Fachwelt umstritten. Das Berliner Museum zeigt aber eine Tonscherbe aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert mit einer Geometrie-Aufgabe. Zu jener Zeit florierten in der Hafenstadt Alexandria die Wissenschaften im Museion, dem ersten Forschungsinstitut der Geschichte. Zwei Bibliotheken sorgten für die nötige Fachliteratur.
In Alexandria lebten damals der Mathematiker Euklid, der das uns vertraute geometrische Weltbild schuf, und der Ingenieur Philon von Byzanz, der einen hydraulischen Roboter baute. Im ersten nachchristlichen Jahrhundert – mittlerweile regierten die Römer am Nil – wirkte der vielseitige Heron im Museion. Mit seinen Automaten begann die mechanische Programmsteuerung. Das alte Ägypten ist also auch eines der Mutterländer der Informatik. Der erste Computer, eine IBM 1620, lief dort aber erst im Jahr 1962 nach Christus.