Willkommen im Neuland
Geschrieben am 06.06.2023 von HNF
Vor zehn Jahren begann mit einem Artikel der Zeitung „Guardian“ eine weltumspannende Überwachungsaffäre. Im Mittelpunkt standen die Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden. Am 19. Juni 2013 nahm Bundeskanzlerin Angela Merkel Stellung. Das Internet bezeichnete sie als „Neuland“, was ihr viel Kritik eintrug. Das Wort wurde schon früher herangezogen, um wissenschaftliche und technische Neuerungen zu beschreiben.
Es geschah in Berlin: „Wir haben über Fragen des Internet gesprochen, die aufgekommen sind im Zusammenhang mit dem Thema des Programms PRISM. Wir haben hier sehr ausführlich über die neuen Möglichkeiten und die neuen Gefährdungen gesprochen. Das Internet ist für uns alle Neuland, und es ermöglicht auch Feinden und Gegnern unserer demokratischen Grundordnung, natürlich mit völlig neuen Möglichkeiten und völlig neuen Herangehensweisen, unsere Art zu leben in Gefahr zu bringen.“
Diese Worte äußerte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 19. Juni 2013. Neben ihr stand US-Präsident Barack Obama, der zu einem Kurzbesuch in die deutsche Hauptstadt gekommen war. Die Kanzlerin bezog sich auf die knapp zwei Wochen zuvor angelaufene Affäre, die der Geheimdienstler Edward Snowden auslöste. Er enthüllte globale Überwachungsaktionen der amerikanischen NSA, vor allem das Programm PRISM. Mit ihm griff die Krypto-Agentur bei Internetfirmen auf die Daten zu, also auf Mails, Fotos, Videos und Sprachnachrichten.
Der große NSA-Skandal führte zu einem kleinen bei uns. Zeitungsleser, TV-Zuschauer und Twitter-Nutzer stießen sich am Neuland. Das Wort wurde zitiert und kommentiert und zum Meme, wie die Internet-Forscher sagen. Heute gehört es zur Merkel-Ära wie die berühmte Raute. Die Kanzlerin wusste aber schon lange vor dem Obama-Besuch 2013 über Online-Kommunikation Bescheid. Sie eröffnete mehrere CeBITs, und am 19. September 2011 hielt sie eine Rede vor Zeitungsverlegern, die ein Loblied des Internets darstellte.
Als Angela Merkel am 19. Juni 2013 das Internet erwähnte, meinte sie wohl nicht das Netz an sich, sondern nur seine geheimdienstliche Nutzung. Vielleicht erfuhr sie auch schon vor Edward Snowdens Enthüllungen von der Schnüffelei der NSA. Ihr Umfang war für deutsche Stellen sicher Neuland, und sie versuchten nie, der NSA nachzueifern. Der Hinweis der Kanzlerin auf die Feinde und Gegner unserer Demokratie klingt prophetisch, wenn man an die jüngsten russischen Kampagnen zur Internet-Desinformation denkt.
Wir möchten jetzt aber auf die Geschichte des Wortes „Neuland“ eingehen. Es steht schon im Alten Testament. In Kapitel 4, Vers 3 des Propheten Jeremia heißt es: „Denn so spricht der Herr zu den Leuten von Juda und zu Jerusalem: Nehmt Neuland unter den Pflug, und sät nicht in die Dornen!“ Ähnlich drückte sich der Prophet Hosea in Kapitel 10, Vers 12 aus. Wir folgen hier der Einheitsübersetzung, die Lutherbibel verwendet die Formulierung „Pflüget ein Neues“. Die englische Übertragung spricht von „fallow ground“, zu Deutsch Brachland.
Das Neuland brachte es dann in die russische Literatur. 1877 schrieb Iwan Turgenjew einen Roman dieses Titels, 1934 erschien der erste Teil des Buchs Neuland unterm Pflug von Michail Scholochow. Teil 2 folgte 1959. Es behandelte die Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft. Das hielt die schwedische Literatur-Akademie nicht davon ab, Scholochow 1965 den Nobelpreis zu verleihen. Sein Werk wurde auch in der DDR gelesen und 1967 für das DDR-Fernsehen verfilmt. Angela Merkel hat es höchstwahrscheinlich gekannt.
„Neuland der Seele“ lautete der deutsche Titel von zwei Büchern zur Parapsychologie; sie kamen 1910 und 1938 heraus. Das erste verfasste im Original der Franzose Joseph Maxwell und das zweite der US-Forscher Joseph B. Rhine. Das gleiche Thema behandelte 1978 das Neuland der Psyche; das Werk stammte vom amerikanischen Ehepaar Walter und Mary Jo Uphoff. Mit „Fernsehen – Abenteuer im Neuland“ überschrieb der Münchner TV-Produzent Kurt Wilhelm ein eher normales Technikbuch; es erschien im Jahr 1965.
„Neuland“ stand 1979 über Memoiren des sowjetischen Staatsmanns Leonid Breschnew. 1998 setzte FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle das Wort über sein Politik-Buch. Der SPIEGEL verband 1996 den Ausdruck mit dem Internet: „Der Telekosmos, das Internet oder der Cyberspace: Das digitale Neuland hat viele Namen.“ Generalbundesanwalt Kay Nehm verwendete ihn ebenso, als ihn der SPIEGEL 1996 interviewte: „Das Internet ist nun einmal für alle Beteiligten – Politiker, Juristen und Betreiber – Neuland.“ Das kommt uns doch irgendwie bekannt vor.
Der König des Neulands heißt aber Frederic Vester. 1925 in Saarbrücken geboren, wurde er als Systemforscher bekannt. Außerdem erfand er den Papiercomputer, ein matrixbasiertes Entscheidungsverfahren. Er starb 2003 in München. Sein Buch Neuland des Denkens brachte 1980 eine „grüne“ Sicht der Wissenschaft und des Computers. Dabei setzte Vester die Kybernetik gegen die in seinen Augen technokratische Informatik. Einblicke in seine Philosophie liefert die 1978 konzipierte Ausstellung „Unsere Welt – ein vernetztes System“, zu der ein längeres Video erhalten ist.
Eine andere Ausstellung erlebte am 26. März 2020 ihre Premiere im Internet. #Neuland schufen die Museumsstiftung Post und Telekommunikation und die Nemetschek Stiftung; sie behandelt das Thema „Ich, wir und die Digitalisierung“. Nach der Online-Periode konnte man die Schau in Nürnberg und in Berlin real besuchen; inzwischen befindet sie sich im Stadtmuseum Lahr. Wer also das Neuland sucht, findet es im Schwarzwald fünfzehn Kilometer südlich von Offenburg – da lohnt sich bestimmt die Reise!
Sehr guter Artikel, der zeigt, dass oft der nötige Kontext zur hochinteressanten Technik gehört. Man sollte aber nicht, wie im -Artikel erwähnt, von russischer(sowj.) Kollektivierung der Landwirtschaft reden, ohne Hinweis darauf, dass Stalin damals 7 (in Worten sieben) Millionen Ukrainer (Wikipedia, Holodomor) infolge dieser Aktion wissentlich in den grausamen Hungertod schickte. Er wird heute noch verehrt. – Und von Frau Dr. Merkel als studierte Physikerin, wäre, wie auch immer, bezüglich der sogenannten Digitalisierung in Deutschland, mehr zu erwarten gewesen. „Digital“ ist ein absoluter Fachbegrif, „Digitalisierung“ ist nicht selbsterklärend und als viele Politiker und Politikerinnen wussten wie man’s schreibt und spricht, so hatte ich zumindest den Eindruck, ging ein kostenträchtiger Aktionismus los. Irgendwann zählt aber nur das Ergebnis und die rote Laterne ist nicht weit. Übrigens, als ich meine technischen Artikel zu 50 jahre PONG von ATARI schrieb, fiel mir ein, dass vor 50 Jahren ja auch hierzulande bereits die Digitalisierung an der Tagesordnung war: Es hatte aber den Titel „Es wird auf EDV umgestellt“. Im Grunde das Gleiche, anderes technisches Niveau, von sehr vielen Laien belächelt, aber jeder konnte sich echt was drunter vorstellen, vor allem ohne das umstrittene „Googeln“. Da war Digitalisieren wirklich Neuland und an Internet nicht zu denken.