Wolkig aber aufregend – wie das Web geboren wurde
Geschrieben am 12.03.2019 von HNF
Als Geburtsurkunde des World Wide Web gilt allgemein ein Konzeptpapier mit dem Titel „Informationsverwaltung: ein Vorschlag“. Der englische Physiker Tim Berners-Lee verfasste es im März 1989 im Kernforschungszentrum CERN bei Genf; anschließend ließ er es im Kollegenkreis zirkulieren. Es bewirkte zunächst wenig. Der Vorschlag enthielt aber schon die wichtigsten Elemente des späteren globalen Computernetzwerks.
Was gehört in ein Kernforschungszentrum? Natürlich Atomkerne, um sie zu erforschen, sowie die nötigen Werkzeuge. Deutsche Physiker nennen sie Beschleuniger; international heißen sie Accelerator oder auch Collider, denn in ihnen fliegen beschleunigte Teilchen mit höchster Geschwindigkeit aufeinander. Die stärksten Beschleuniger der Welt stehen im CERN vor den Toren von Genf. Mit ihnen wurde mehr als ein Nobelpreis gewonnen. Wer dort arbeitete, kam einfach nicht um sie herum.
„Dieser Vorschlag betrifft die Verwaltung von beliebigen Informationen über Beschleuniger und Experimente im CERN. Er diskutiert die Probleme des Schwunds von Informationen über komplexe, sich fortentwickelnde Systeme und kommt zu einer Lösung auf der Basis von verteilten Hypertext-Systemen.“ So lautete die Kurzform des Papiers, das Tim Berners-Lee im März 1989 im CERN verteilte. Mit dem Aufsatz „Informationsverwaltung: ein Vorschlag“, im Original Information Management: A Proposal, startete das World Wide Web.
Der 33-jährige englische Physiker hatte bereits 1980 im Zentrum gearbeitet. 1984 erhielte er eine neue Stelle im CERN-Bereich für Daten und Dokumente, abgekürzt DD. 1989 widmete sich Berners-Lee der Vernetzung von Computern mit unterschiedlichen Betriebssystemen und Programmiersprachen. Das CERN besaß eine verwirrende Vielfalt von Rechnern; das Angebot reichte von den Mainframes von IBM und DEC im Rechenzentrum über die Minis in den Laboren der Forscher zu den Personal Computern in den Büros.
Darüber hinaus war das CERN mit aller Welt über das Internet verbunden. Mit seinem Vorschlag wollte der Physiker Wege durch das drohende Informationschaos weisen. Er griff dabei auf ein Programm namens ENQUIRE zurück, das er 1980 geschrieben hatte. Es diente zur Katalogisierung von Software und umfasste Seiten, die aufeinander verwiesen. Zweitens stützte sich Berners-Lee auf die Idee des Hypertexts, also auf das Verlinken von Texten. Das Prinzip fand sich etwa in der 1987 von Apple vorgestellten Software HyperCard.
In seinem Papier erweiterte Tim Berners-Lee die auf einzelne Rechner beschränkten Ansätze auf Gruppen von Systemen und letztlich auf die ganze Welt. Dazu benötigte er nur acht Seiten, zu denen noch fünf Seiten mit Anhängen kamen. Die einzige grafische Darstellung schmückte das Deckblatt. Laut Überlieferung stellte Berners-Lee den Vorschlag am 12. März 1989 fertig, einem Sonntag. An den folgenden Tagen verteilte er ihn an die Kollegen bis hinauf zum Leiter seiner Arbeitsgruppe, den englischen Physiker Mike Sendall.
Die Reaktion der Leser blieb verhalten. In den World-Wide-Web-Mythos gingen zwei Notizen von Mike Sendall ein: das „Vague but exciting“ – wolkig aber aufregend – auf dem Cover und sein „And now?“ am Ende des Haupttextes. Tatsächlich schrieb Sendall viel mehr hinein; man findet alle Anmerkungen in der PDF-Datei im Online-Archiv des CERN. Auffällig sind die Zusammenfassung auf der zweiten PDF-Seite und das lange Resümee auf Seite 11. Leider ist Sendalls Handschrift nicht immer leicht zu lesen
Tim Berners-Lee wartete eine Weile; im Mai 1990 überarbeitete er seinen Vorschlag und brachte ihn erneut in Umlauf. Auch diese Fassung ist im Archiv und an vielen Orten im Netz erhalten. Für die Zweitversion integrierte er die Anhänge in den Haupttext, außerdem zeichnete er zwei Bilder und fügte Ideen für „A Practical Project“ hinzu. Was die Leser vom Text hielten, wissen wir nicht, aber im September 1990 lief im Büro von Berners-Lee ein nagelneuer NeXT-Computer. Und mit ihm schuf er bis Weihnachten das World Wide Web, wie wir es kennen.
Das Kernforschungszentrum feiert heute Vormittag den 30. Geburtstag des Netzwerks: Hier stehen Details. Im CERN-Archiv gibt es einen Film zum 20. Geburtstag des Netzes 2009 und einen zweiten über die CERN-Computer in den späten Achtzigern. Bei Minute 9:00 geht es ins Rechenzentrum, ab Minute 9:45 besingt die Gruppe Kraftwerk die Computerliebe. Wer sich aber mehr für große Beschleuniger interessiert, der sollte sich die NDR-Produktion aus dem Sommer 1989 anschauen. Thema ist der Large Electron-Positron Collider LEP.
Unser Eingangsbild (Foto CERN) zeigt einen Ausschnitt aus dem Deckblatt von Tim Berners-Lees Vorschlag; gut erkennbar sind die Worte „Vague but exciting“. Da sein Textprogramm noch keine Autokorrektur besaß, blieb auch ein Tippfehler stehen. Können Sie ihn finden? Kleiner Tipp: Er hat mit Hypertext-Systemen zu tun.