1833 – ein Telegraf in Göttingen

Geschrieben am 28.03.2023 von

Vom April 1833 bis zum Dezember 1845 hing über den Dächern von Göttingen die mehr als einen Kilometer lange Leitung eines elektrischen Telegrafen. Sie führte von einem Haus der Universität im Stadtzentrum zur Sternwarte und dem daneben stehenden magnetischen Observatorium. Installiert hatten die Anlage der Physiker Wilhelm Weber und der berühmte Mathematiker Carl Friedrich Gauß.

Im Frühjahr 1833 drang die Linie des preußischen optischen Telegrafen von Berlin aus nach Westen und Südwesten vor; im Herbst wurde die Endstation Koblenz fertig. Die insgesamt 62 Signaltürme bildeten damals die längste Telegrafenstrecke Europas. Sie umging die zum Königreich Hannover gehörende Stadt Göttingen. Dort nahm im April 1833 eine völlig andere Kommunikationstechnik den Betrieb auf.

Carl Friedrich Gauß, gezeichnet 1828 von Siegfried Detlev Bendixen

Die Geschichte der elektrischen Telegrafie ist lang und kompliziert. Die ersten Versuche unternahm Georges-Louis Le Sage 1774 in Genf; Samuel Thomas von Soemmerring führte 1809 in München ein System vor. Die beiden überbrückten aber nur Distanzen im Zimmer. Mit einem mehrere Kilometer langen Draht arbeitete 1816 der Engländer Francis Ronalds. 1820 entdeckte der dänische Physiker Hans Christian Oersted den Elektromagnetismus. Er führte zur Elektrodynamik und Elektrotechnik; außerdem schuf er eine neue Grundlage für die Forscher auf dem Feld der Telegrafie.

Carl Friedrich Gauß und Wilhelm Weber trafen sich im September 1828 auf der Konferenz der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte in Berlin. Der Mathematiker Gauß zählte zu den prominenten Teilnehmern der Tagung. Geboren am 30. April 1777 in Braunschweig, war er Professor der Universität Göttingen und Direktor der örtlichen Sternwarte. Wilhelm Weber kam am 28. Oktober 1804 in Wittenberg zur Welt; 1828 lehrte er Physik an der Universität Halle. Die zwei verstanden sich sofort. Gauß sorgte dafür, dass Weber drei Jahre später ebenfalls Professor in Göttingen wurde.

Wilhelm Weber in den 1830er-Jahren

Dort befassten sich beide mit dem Phänomen des Magnetismus. Carl Friedrich Gauß interessierte sich vor allem für die irdische Form; in der Göttinger Sternwarte richtete er ein magnetisches Observatorium für entsprechende Messungen ein. Allerdings konnte er Störeffekte durch Eisenteile nicht völlig beseitigen. Deshalb ließ er 1833 im Garten der Sternwarte ein neues Observatorium errichten, ein kleines Holzhaus, in dem nur Nicht-Eisen-Metalle steckten. Das Häuschen wurde 1902 auf den Hainberg im Osten der Stadt verlegt, wo es noch immer steht.

Im Rahmen ihrer magnetischen Forschungen entwickelten Gauß und Weber einen elektrischen Telegrafen. Die Realisierung dürfte Wilhelm Weber übernommen haben. Wohl Anfang 1833 verlegte er die Leitung aus zwei Kupferdrähten, die bald durch eiserne ersetzt wurden. Sie führten in luftiger Höhe vom Physikalischen Kabinett der Universität zum Turm der Johanniskirche und zur Universitätsapotheke. Von dort zogen sich die Drähte über das Accouchierhaus – so nannte man das Entbindungshospital der Uni – zu der Sternwarte und dem magnetischen Observatorium. Die überwundene Distanz betrug 1,2 Kilometer.

Die Telegraphenleitung von der Universität (A) zur Sternwarte (B)

Die Drähte verliefen parallel zueinander und bildeten einen Stromkreis. An jedem Ende der Leitung standen ein Sender und ein Empfänger. Der Sender schickte Stromstöße durch den Kreis, wobei der Bediener die Richtung – linksherum oder rechtsherum – wählen konnte. Die Energie kam zuerst von einer Voltaschen Säule, also einer Batterie, die endgültige Version des Telegrafen verwendete einen Induktor. Er bestand aus einer Spule, die einen kräftigen Stabmagneten umgab. Hob man die Spule an, wurde ein elektrischer Impuls erzeugt, der sich in der Leitung fortpflanzte.

Als Empfänger diente ein Galvanometer oder „Multiplicator“, wie man anno 1833 sagte. Er bestand aus einer länglichen Spule, in der an einer Schnur ein Magnetstab hing. Wenn ein Stromstoß eintraf, wurde der Stab je nach Richtung zur einen oder anderen Seite abgelenkt. Der Bediener sah sein Zucken in einem Fernrohr, mit dem er einen kleinen Spiegel an der Schnur des Magneten beobachtete. Ein Nachbau des Empfangsgeräts ist in unserem Eingangsbild zu sehen (Foto G. M. Sauer, Georg-August-Universität Göttingen, Sammlung historischer Gegenstände am Institut für Astrophysik, CC BY-NC-ND 4.0).

Der Sender des Telegrafen – oben ragt der Stabmagnet heraus. Die beiden runden Handgriffe dienen zum Anheben der Spule. (Foto sauer-marketing.de. Georg-August-Universität Göttingen, Physicalisches Cabinet CC BY-SA 4.0 seitlich beschnitten)

Der Überlieferung nach funktionierte der Telegraf in den Ostertagen des Jahres 1833; der Ostersonntag fiel auf den 7. April. Carl Friedrich Gauß schilderte in einem Brief an Alexander von Humboldt vom 13. Juni 1833 die „Drahtverbindung zwischen der Sternwarte und dem Physikalischen Cabinet“. Eine gedruckte Meldung brachten erst am 9. August 1834 die „Göttingischen gelehrten Anzeigen“. Zitat: „Es leidet keinen Zweifel, daß es möglich seyn würde, auf ähnliche Weise eine unmittelbare telegraphische Verbindung zwischen zweyen eine beträchtliche Anzahl von Meilen von einander entfernten Oertern einzurichten…“

Für die Kommunikation in Göttingen entwarfen unsere Forscher eine Code-Tabelle ähnlich dem späteren Morse-Alphabet. Verschlüsselt wurden Buchstaben und Ziffern, das Plus- und das Minus-Zeichen deuteten jeweils die Stromrichtung an. Die erste von Gauß an Weber verschickte Botschaft soll „Michelmann kommt“ gewesen sein – Michelmann hieß der Diener der Sternwarte. Einigermaßen sicher ist ein frühes Telegramm „Wissen vor Meinen, Sein vor Scheinen“, dessen Übertragung viereinhalb Minuten dauerte.

Das ehemalige Carl-Friedrich-Gauß-Denkmal in Berlin

Der elektrische Telegraf von Gauß und Weber war der erste in der Welt, der eine längere Strecke überbrückte und praktisch genutzt wurde. Seine beiden Entwickler betrieben ihn bis 1837. In diesem Jahr musste Wilhelm Weber die Universität verlassen – er gehörte zu den Göttinger Sieben. 1849 kehrte er wieder zurück, doch die Drähte über der Stadt gab es nicht mehr. Sie wurden im Dezember 1845 durch einen Blitzschlag zerstört. 1873 fertigte der Physiker für die Wiener Weltausstellung Nachbauten der Sende- und Empfangsgeräte an; sie sind heute im Institut für Astrophysik der Universität Göttingen ausgestellt.

Zu diesem Zeitpunkt eroberte die elektrische Telegrafie die Welt und überquerte schon den Atlantischen Ozean. Carl Friedrich Gauß starb am 23. Februar 1855, Wilhelm Weber am 23. Juni 1891, ebenfalls in Göttingen. Sie leben seit 1899 in einem Denkmal weiter, in dem sie als ältere Herren erscheinen. Eine Bronzefigur von Gauß schmückte ab 1898 die Potsdamer Brücke in Berlin, sie zeigte auch seinen Telegrafen. Die Figur wurde leider im Zweiten Weltkrieg eingeschmolzen, erhalten blieb nur ein unvollständiges Gipsmodell.

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2 Kommentare auf “1833 – ein Telegraf in Göttingen”

  1. Rudolf Seising sagt:

    Vielen Dank dafür! Da sind viele Details drin, die ich noch nicht kannte.

  2. Im Göttinger Monatsblatt vom August 1861 schreibt Niels Siemens: „Wiederholt gab ihm der Hofrat Gauß, für den er allerlei kleine Besorgungen ausführte, Gelegenheit zu einem Gespräch über den elektrischen Telegrafen.“
    In den Göttinger Monatsblättern von August 1861 steht weiter: „Was ist eine Nachricht? Von Lord Northcliffe, einem der größten englischen Zeitungsverleger stammt die klassische Definition: Wenn ein Hund einen Mann beißt, so ist das keine Nachricht, aber wenn ein Mann einen Hund beißt, das ist eine Nachricht!“

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