1960: Der Cyborg kommt

Geschrieben am 27.05.2025 von

Der englische Ausdruck „Cyborg“ steht für den kybernetischen Organismus. Es bezeichnet einen Menschen, der durch künstliche Körperteile zusätzliche Fähigkeiten erlangt und in extremen Umwelten überleben kann. Das Konzept stammte von dem Neurologen Manfred Clynes und dem Psychiater Nathan Kline. Sie präsentierten es am 27. Mai 1960 auf einem Symposium in Texas und schrieben damit Technikgeschichte.

Vor 65 Jahren lebte die Welt im „Space Age“, dem Zeitalter der Raumfahrt. Die UdSSR und die USA platzierten Satelliten im All, die Sowjets schickten eine Sonde zum Mond und eine um ihn herum. Die amerikanische Raumfahrtbehörde NASA stellte 1959 sieben Piloten fürs Projekt Mercury vor. Sie sollten auf Trägerraketen in Raumkapseln starten, Parabelflüge absolvieren und schließlich die Erde umkreisen. Die Sowjetunion plante Ähnliches, hielt es allerdings geheim.

Die bemannte Raumfahrt – Frauen ließ die NASA am Boden – interessierte auch die Ärzte. Immer schnellere Düsenjäger und die Belastungen ihrer Crews hatten zu einem Aufschwung der Flugmedizin geführt. Der Schritt ins All brachte neue Herausforderungen, die es zu erforschen galt. Daher organisierte die US Air Force am 26. und 27. Mai 1960 eine Tagung über psychophysiologische Aspekte von Raumflügen. Sie fand auf dem Stützpunkt Brooks im texanischen San Antonio statt, wo sich die Schule für Luftfahrtmedizin der Air Force befand.

Cyborg-Miterfinder und Namensgeber Manfred Clynes (unbekannter Fotograf CC BY-SA 3.0)

Der Vortragsband der Konferenz ist im Internet – Achtung, dicke Datei! Der letzte Abschnitt widmet sich „Special Techniques of Control“; das Wort kann man hier mit menschlicher Beteiligung übersetzen. Ein Referat behandelt Astronauten im Kälteschlaf, ein anderes die Hypnose bei Raumflügen. Der Beitrag, der auf PDF-Seite 355 beginnt, trägt den Titel „Drugs, Space, and Cybernetics“ und schildert die Evolution zum Cyborg. Die Autoren Nathan Kline und Manfred Clynes arbeiteten im Rockland State Hospital, einer riesigen psychiatrischen Klinik im Städtchen Orangeburg nördlich von New York.

Das Wort „Cyborg“ prägte Manfred Clynes; es verknüpft die Wissenschaft der Kybernetik mit dem biologischen Organismus. Ein Cyborg ist ein mit technischen Implantaten versehener Mensch, der lebensfeindliche Umgebungen und gefährliche Stress-Situationen ohne Schutz erträgt. Als konkretes Beispiel konnten Kline und Clynes nur die 1955 erfundene osmotische Pumpe anführen, die Medikamente im Körper verteilt, doch sie ließen der Phantasie freien Lauf und beschrieben mehrere denkbare Cyborg-Einsätze im Weltraum.

Tatü Tata, der RoboCop ist da! Diese Büste des Cyborg-Helden steht im HNF.

Der 1916 in Philadelphia geborene Nathan Kline war Pionier auf dem Feld der Psychopharmaka. 1960 leitete er das Forschungszentrum der Rockland-Klinik. Sein Co-Autor kam 1925 als Manfred Klein in Wien zur Welt; sein Vater, der Schiffbauingenieur Marcel Klein, konstruierte schon 1914 ein U-Boot für Forschungszwecke. 1938 emigrierte die Familie nach Australien. 1946 erwarb Manfred Clynes, wie er sich jetzt nannte, den Bachelor für Elektrotechnik in der Universität Melbourne. Danach studierte er Musik und wirkte als Konzertpianist. Im Jahr 1956 begann er eine dritte Karriere als Neurologe in Orangeburg.

Die Erstpublikation des Cyborg erfolgte am 11. Juli 1960 in der Illustrierten LIFE; die Szene auf dem Mond schuf der Zeichner Fred Freeman. Der Vortrag von Nathan Kline und Manfred Clynes vom Symposium in Texas erschien 1961 in Druck, eine gekürzte Fassung brachte im September 1960 die Zeitschrift Astronautics. Ein Rivale des Cyborg war der „Closed-Cycle Man“ des Ingenieurs Dandridge Cole aus dem Jahr 1964. In ihm wurden alle Organe außer dem Gehirn durch Technik ersetzt. Ein ähnliche Konzept skizzierte 1970 der Science-Fiction-Autor Herbert W. Franke.

Auch die Skulptur des Cyborg-Künstlers Neil Harbisson befindet sich in Paderborn. Der Sensor am Kopf ermittelt Farbwerte – Harbisson sieht die Welt nur schwarzweiß.

In den 1960er-Jahren machte auch die herkömmliche Medizintechnik Fortschritte; im Januar 1968 beschrieb eine Titelgeschichte des SPIEGEL Ersatzteile für den Menschen. Der Cyborg triumphierte aber in Literatur und Film. Der gleichnamige Roman des Autors Martin Caidin von 1972 führte zum Sechs-Millionen-Dollar-Mann und zur Sieben-Millionen-Dollar-Frau im Fernsehen. In den Achtzigern sorgte der RoboCop im Kino für Recht und Ordnung. Der Cyborg inspirierte ebenso die Kunst und die Geisteswissenschaften; 1985 verfasste die Feministin Donna Harraway das Cyborg Manifesto.

Das HNF erinnert im Bereich Von Wearables zu Cyborgs an den High-Tech-Menschen. Was wurde aber aus den Cyborg-Vätern? Nathan Kline brachte es zum Forschungsdirektor des Rockland-Hospitals. Er starb 1983 bei einer Herzoperation. Manfred Clynes untersuchte die Beziehung zwischen Gedanken, Gefühlen und ihren körperlichen Ausdrücken; sein Buch dazu liegt auch auf Deutsch vor. Außerdem erstellte er die Musik-Software SuperConductor. Er verstarb 2020 im 95. Lebensjahr. Das geniale Konzept des kybernetischen Organismus wird uns wohl noch eine Weile erhalten bleiben.

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Ein Kommentar auf “1960: Der Cyborg kommt”

  1. Stui Savory sagt:

    Wo ist die Grenze? Der Pirat mit Holzbein? Der Brillenträger?
    Hörgeräte? Handy mit Internetzugang? Virtual reality?

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