Als das Kino sprechen lernte
Geschrieben am 06.10.2017 von HNF
Vor 90 Jahren lief in Amerika der Film „Der Jazzsänger“ an. Die Begleitmusik und die Lieder des Hauptdarstellers Al Jolson kamen von Schallplatten, die im Kino abgespielt wurden. Jolson sagte auch einige Sätze. Daraus entstand dann der moderne Tonfilm. Bei der Wiedergabe setzte sich das Lichttonverfahren durch, bei dem der Filmstreifen die akustische Information trägt.
Wie so oft in der Technik ist auch beim Tonfilm alles schon mal dagewesen. Die ersten bewegten Bilder, bei denen man auch etwas hörte, wurden 1894 oder 1895 im Labor des amerikanischen Erfinders Thomas Edison aufgenommen. Verantwortlich war Edisons Assistent William Dickson. Der knapp 20 Sekunden lange Streifen ist erhalten. Man erlebt zwei Walzer tanzende Herren und einen unerschrockenen Geiger; am Ende schleicht sich noch eine vierte Person ins Bild.
Die Tontechnik wird sofort klar. Die Klänge der Violine gelangen durch den Schalltrichter zu dem von Edison erfundenen Phonographen, der sie auf eine rotierende Walze bannt. Die Walzen verdrängte ab 1900 die Schallplatte, die auch die Produktion von kurzen Musikfilmen ermöglichten. Wiedergegeben wurden sie durch eine Verbindung von Filmprojektor und Plattenspieler. In Deutschland drehte Oskar Messter einige Jahre seine Tonbilder, in Frankreich entstanden die Phonoscènes der Regisseurin Alice Guy. Hier ist eine Probe.
Längere Streifen benötigten nach wie vor eine Kapelle oder einen Pianisten, der die Aktion live begleitete; manche Kinos leisteten sich auch eine Orgel. In den 1920er-Jahren wurden mehrere Techniken entwickelt, die abendfüllende Filme mit Ton ermöglichten. 1926 erschien der amerikanische Schauspieler John Barrymore als „Don Juan“ auf der Leinwand; die Musik lieferte das Vitaphone-Verfahren. Es basierte auf 41 Zentimeter messenden Schallplatten, die synchron zum Film abliefen. Im Eingangsbild hält ein Ingenieur eine solche Scheibe.
Der Vorführer musste neben dem Wechsel der Filmrollen alle zwölf Minuten eine neue Platte starten. Das Verfahren war umständlich, doch die Tonqualität recht gut, wie man hier sehen und hören kann. Das Studio der Warner Brothers produzierte ab 1926 eine ganze Anzahl von Vitaphone-Filmen. Die Platten enthielten dabei nur Musik, mit anderen Worten, sie ersparten dem Kino den Klavierspieler. Dialoge zwischen den Schauspielern gab es keine. Das änderte sich aber am 5. Oktober 1927 mit der Premiere des Films „Der Jazzsänger“.
The Jazz Singer, wie der Originaltitel lautete, basierte auf einem Theaterstück und einer Kurzgeschichte des amerikanischen Schriftstellers Samson Raphaelson. Inspiriert wurde sie durch die Vita des Sängers und Schauspielers Al Jolson. Geboren 1886 in Litauen als Sohn eines frommen jüdischen Kantors, kam er mit der Familie 1894 in die USA. Nach dem Tod seiner Mutter verkrachte er sich mit dem Vater und lief von zu Hause weg. Mit viel Energie gelang ihm der Aufstieg im Showgeschäft, dessen Zentrum der New Yorker Broadway war.
Diese Geschichte zeichnete der Film nach. Hauptdarsteller in der tränenreichen Story war Al Jolson selbst. Das Vitaphone-System nahm seine Songs auf und einige gesprochene Sätze, so vor dem Lied Toot Toot Tootsie. Sie beeindruckten das Publikum noch mehr als Jolsons Gesang. Seitdem gilt „Der Jazzsänger“ als erster Tonfilm. Über weite Strecken hörte man aber wie bei „Don Juan“ nur Orchestermusik, und man sieht lautlose Akteure und die vom stummen Kino gewohnten Zwischentitel.
Der erste Tonfilm ohne Zwischentitel und mit komplett gesprochenen Dialogen war der Krimi „The Lights of New York“. Er stammte wie „Der Jazzsänger“ von den Warner Brothers und hatte eine Länge von nur einer Stunde. Die Premiere erfolgte im Juli 1928. Im Dezember des Jahres brachte das konkurrierende Fox-Studio den ersten tönenden Western heraus, „In Old Arizona“. Man kann ihn heute in voller Länge auf YouTube anschauen. Das Bemerkenswerte ist dabei die Tontechnik, die ganz ohne Schallplatten auskam.
In den 1920er-Jahren wurden auf beiden Seiten des Atlantiks Lichtton-Verfahren entwickelt. Bei der Aufnahme verwandeln sie Sprache und Musik in Lichtimpulse, die wie die Bilder der Kamera auf Film festgehalten werden. Für die Wiedergabe werden die Bild- und die Tonspur auf ein und demselben Streifen zusammengefügt. Der Projektor im Kino setzt die Sprossen oder Zacken mittels Fotozelle, Verstärkerröhre und Lautsprecher in Schall um. Der große Vorteil des Systems ist die problemlose Synchronisierung von Bild und Ton.
In den USA arbeiteten Lee De Forest – einer der Väter der Elektronenröhre – und Theodore Case am Lichtton. In Deutschland schufen die drei Erfinder Josef Engl, Joseph Massolle und Hans Vogt das Tri-Ergon-System. Die verschiedenen Ansätze führten zu Patentstreits und Kämpfen um Nutzungsrechte, die erst mit dem Pariser Tonfilmfrieden von 1930 endeten. Er wurde von der amerikanischen Firma Western Electric und dem deutsch-holländischen Tobis-Syndikat ausgehandelt und regelte die Exporte von Ausrüstung für die ganze Welt.
Der erste abendfüllende Tonfilm in deutscher Sprache dürfte „Atlantik“ gewesen sein, uraufgeführt am 28. Oktober 1929 in Berlin. Er entstand mit Lichtton in einem Londoner Studio. Hier stellten drei Schauspieler-Ensembles aus Deutschland, England und Frankreich in den gleichen Kulissen den Untergang der „Titanic“ nach. Die englische Fassung ist online. In den frühen Dreißigern führten dann alle amerikanischen Kinos die Lichtton-Technik ein. Allerdingt hält das Vitaphone-Projekt die Erinnerung an das alte System wach.
Al Jolson starb am 23. Oktober 1950. Am Abend des Tages wurden auf dem Broadway zehn Minuten lang die Lichter ausgeschaltet.