Computerszene 1945
Geschrieben am 30.10.2015 von HNF
Vor 70 Jahren, am 30. und 31. Oktober 1945, fand im Massachusetts Institute of Technology nahe Boston die erste Informatiktagung der Welt statt. Die „Konferenz über fortschrittliche Rechentechnik“ führte 84 Forscher und Forscherinnen aus den USA und England zusammen und behandelte Rechen- und Lochkartenmaschinen, Analog- und Relaisrechner sowie den noch im Bau befindlichen Elektronenrechner ENIAC.
Wann begann das Computerzeitalter, in dem wir alle leben? War es 1936, als Alan Turings Aufsatz über die später nach ihm benannte Maschine erschien, oder 1941, als Konrad Zuse in Berlin seine Z3 einschaltete? Oder eher 1944, als in Bletchley Park die Colossus-Rechner deutsche Geheimcodes knackten, 1946, als in den USA das saalfüllende Elektronengehirn ENIAC eingeweiht wurde oder erst 1948, als das „Manchester Baby“ mit seiner Von-Neumann-Architektur in Betrieb ging?
Die Experten werden sich wohl noch lange streiten. In der Zwischenzeit wollen wir einen anderen Startpunkt kurz nach Ende des 2. Weltkriegs vorschlagen, den 30. und 31. Oktober 1945. An diesen Tagen veranstaltete das Komitee für Rechentafeln und Rechenhilfen des Nationalen Forschungsrats der USA eine „Konferenz über fortschriftliche Rechentechnik“ (Conference on Advanced Computation Techniques) über die neuen mathematischen Geräte, die sich am Horizont abzeichneten, kurzum, die erste Informatiktagung der Geschichte.
Schauplatz war das Massachusetts Institute of Technology MIT, die bekannte technische Hochschule im Städtchen Cambridge nahe Boston. 84 Experten und Expertinnen folgten der Einladung zur Konferenz. Die Mehrzahl kam aus Amerika, doch nahm mindestens ein Bürger des britischen Empire teil, der in Neuseeland geborene und in England lebende Leslie John Comrie. Er kannte sich besonders mit der wissenschaftlichen Nutzung von normalen Rechenmaschinen aus und leitete den zuständigen Unterausschuss des obigen Komitees.
Vor der Tagung durften die schon eingetroffenen Teilnehmer den großen neuen Analogcomputer des MIT besichtigen, den RDA oder Rockefeller Differential Analyzer. Er war seit 1942 in Betrieb, aber zuvor ein Staatsgeheimnis gewesen, da er waffentechnische Berechnungen durchführte. Die 100 Tonnen schwere Maschine arbeitete im Kern mechanisch so wie ältere Differentialanalysatoren, besaß jedoch elektrische Bauelemente zum genauen Einstellen, Übertragen und Ablesen von Zahlenwerten.
Nach einem gemütlichen Beisammensein am Vorabend startete die Konferenz am 30. Oktober 1945 mit Grußworten vom Präsidenten des MIT, Karl Taylor Compton, und vom Analogcomputerpapst und RDA-Konstrukteur Vannevar Bush. Das Aufwärmen am Morgen besorgten zwei Industrieforscher, die über analoge Rechenmethoden in der Firma General Electric und die Relaisrechner der Bell Telephone Laboratories vortrugen. Letztere behandelten wir bereits in einem Blogbeitrag im September.
Am Nachmittag sprachen John G. Brainerd und John Presper Eckert über den ENIAC, den fast fertigen Elektronenrechner in der Universität von Pennsylvania. Brainerd lehrte dort Ingenieurwissenschaften und beaufsichtigte das ENIAC-Projekt, das primär von Eckert und dem Physikdozenten John Mauchly betrieben wurde (siehe auch das Eingangsfoto). Im Anschluss folgte ein allgemein gehaltener „Blick in die Zukunft“ vom berühmten Mathematiker und IT-Vordenker John von Neumann.
Den Abschluss des ersten Konferenztages bildete eine Präsentation von Howard Aiken und Kollegen über den Automatic Sequence Controlled Calculator, auch Mark I genannt, den 1944 eingeweihten und 16 Meter langen Relaisrechner der Harvard Universität. Unter den erwähnten Kollegen befand sich auch die Mathematikerin Grace Hopper, die zu den ersten „Computerfrauen“ der Welt zählte und die wir ebenfalls schon in einem Blogbeitrag würdigten.
Am zweiten Tag, dem 31. Oktober 1945, ging es wieder um analoges Rechnen – Referenten waren George Philbrick, der später den modernen elektrischen Analogcomputer schuf, und MIT-Professor Samuel Caldwell – sowie um den wissenschaftlichen Einsatz von Lochkartenmaschinen. Den Beitrag des Astronomen und Lochkartenpioniers Wallace Eckert verlas ein Angehöriger der Hardwarefirma IBM. Der Abschlussvortrag am Nachmittag kam von Leslie Comrie und schilderte die Nutzung von handelsüblichen Rechenmaschinen in der Forschung.
Unter den Teilnehmern der Konferenz, die nach ihrem Ende mit einer Fülle neuer Informationen ihren Arbeitsplätzen zustrebten, entdecken wir einige, die sich in späteren Jahren noch viele Verdienste um den Fortschritt der Informatik erwerben sollten, etwa Norbert Wiener, den Urheber der Kybernetik, Jay Forrester, Miterfinder des Kernspeichers und Konstrukteur des Whirlwind-Computers, oder Claude Shannon, dem das HNF eine eigene Ausstellung widmete. Ebenso interessant ist aber auch, dass sich unten den 84 Teilnehmern immerhin fünf Frauen befanden.
Dass das Programm nicht auf die Relaisrechner von Konrad Zuse eingeht, verwundert angesichts des gerade beendeten Weltkriegs nicht, und ebenso wenig das Fehlen von Hinweisen auf die Colossus-Elektronenrechner in England. Diese waren einfach zu geheim. Die Konferenz Ende Oktober 1945 war nicht geheim. Ein Bericht erschien 1946 in der Zeitschrift „Mathematics of Computation“, sie blieb aber ohne Wirkung in den Massenmedien. Die kam erst im folgenden Februar bei der Vorstellung des fertigen ENIAC, doch darüber werden wir in einem späteren Blogbeitrag berichten.