Demokratie aus dem Computer
Geschrieben am 25.07.2017 von HNF
1971 übertrug das 3. TV-Programm des WDR zwei Sendungen neuen Stils. Unter dem Titel ORAKEL – Organisierte Repräsentative Artikulation Kritischer EntwicklungsLücken – behandelten sie Probleme des Umweltschutzes und des Fernsehens. Dabei konnten Zuschauer im Sender anrufen und mit Ziffern Bewertungen abgeben. Diese wurden mit Computerhilfe ausgewertet. Für manche Experten war ORAKEL das Vorzeichen einer „Computer-Demokratie“.
2017 ist bekanntlich ein Wahljahr. Zu den Urnen gehen wir im September, doch schon jetzt wird diskutiert, wie Hacker die Stimmabgabe manipulieren oder Fake-News im Internet die Wähler beeinflussen können. 1971 stand der Computer noch nicht im Haus, sondern meist in der Uni oder im Rechenzentrum. Experten überlegten aber neue mediale Formen, um politische Fragen zu klären, und einer dachte sogar über eine „Computer-Demokratie“ nach.
Das war Helmut Krauch. Geboren 1927 in Heidelberg, studierte er Chemie und machte 1955 seinen Doktor. Danach schaute er sich in amerikanischen Labors um. Ab 1958 arbeitete er in der Atomforschung in Karlsruhe und Heidelberg. Hier gründete er die Studiengruppe für Systemforschung SfS; sie widmete sich der Beziehung von Technik und Gesellschaft. In den 1960er-Jahren war er als Soziologe in Kalifornien aktiv und untersuchte Planungs- und Entscheidungsprozesse. 1968 kehrte er zurück und stieg in die Politikberatung ein.
Im Auftrag des damaligen Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger wollten Helmut Krauch und die SfS die Informationsflüsse in der Regierung verbessern. Unter dem neuen Bundeskanzler Willy Brandt setzten sie 1969 die Arbeit fort. Im Mittelpunkt standen dabei ein multimediales Informationssystem und ein zweites System, um Ideen, Sorgen und Nöte der Bevölkerung zu erkunden. Es trug den Namen ORAKEL, die Abkürzung für – tief Luft holen – Organisierte Repräsentative Artikulation Kritischer EntwicklungsLücken.
Die Planungspläne des Kanzleramts stießen aber bald auf Widerstand bei den Ministerien und den Bundestagsabgeordneten. Es war absehbar, dass sie sich nicht realisieren ließen. Helmut Krauch bot das ORAKEL-Format deshalb frühzeitig dem Westdeutschen Rundfunk in Köln an, und der griff zu. An drei Abenden hintereinander, am 26., 27. und 28. Februar 1971, strahlte das 3. Fernsehprogramm des WDR eine zweieinhalb Stunden lange Live-Sendung aus, in der Bürger und Experten sich auf neue Art politisch äußerten.
Das Fernseh-ORAKEL galt einem Topthema der Zeit: Umweltschutz. Bei der Realisierung ergaben sich vier Ebenen. Im Studio saßen ein Moderator und sechs Fachleute, die höchst kontrovers diskutierten. Zu ihnen zählten der Ministerialbeamte Peter Menke-Glückert, der Schriftsteller Günter Wallraf und Helmut Krauch selbst. Weitere Gesprächspartner waren ein Mitglied des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, ein Institutsdirektor aus dem Bundesgesundheitsamt und die Leiterin einer Obdachloseninitiative.
Die zweite Ebene bildete ein Team der Studiengruppe für Systemforschung, das eine umfangreiche Recherche zur Umweltproblematik angestellt und viele Fakten parat hatte. Dieses Team beantwortete ad hoc Sachfragen; außerdem griff es ein, wenn ein Diskutant eine offenkundig falsche Aussage tätigte. Ebene 3 umfasste 25 repräsentativ ausgewählte Bürger aus dem Sendegebiet des WDR. Sie konnten zu bestimmten Zeiten per Telefon an der Studiodiskussion teilnehmen.
Die vierte und wichtigste Ebene bestand aus den Zuschauern draußen im Lande. Sie konnten beim WDR anrufen und zu vorher formulierten Fragen Stellung nehmen. Dies geschah mit den Ziffern 1 bis 5, wobei 1 eine extreme Ablehnung und 5 eine ebensolche Zustimmung ausdrückte. Der Sender hatte dazu 30 Telefonplätze eingerichtet. Vor ihrem Feedback mussten die Anrufer rudimentäre Angaben zu Alter, Geschlecht, Einkommen und Bildung machen sowie die Postleitzahl des Wohnorts nennen.
Die einlaufenden Bewertungen wurden beim WDR einem IBM-Computer zugeführt und grafisch aufbereitet. Man verfügte über einen großformatigen Monitor vom Typ IBM 2250, der auch Eingaben mit dem Lichtgriffel ermöglichte. Nachteilig war, dass die Inhalte des Bildschirms nicht direkt ausgestrahlt werden konnten. Immerhin kam eine umfangreiche Datenbasis zusammen. Schon zur ersten Gruppe mit drei Fragen meldeten sich 527 Zuschauer. Am zweiten ORAKEL-Tag riefen mehr als tausend Zuschauer an.
Am letzten Tag fand eine Art Manöverkritik statt. Konkrete Daten aus den Telefonaten sind uns nicht bekannt. Helmut Krauch teilte aber später mit, dass viele Anrufer bereit gewesen wären, zur Lösung von Umweltproblemen bis zu zehn Prozent mehr Steuern zu zahlen. Am 30. Dezember 1971 strahlten die 3. Programme des WDR und des Südwestfunks das zweite ORAKEL aus. Neun Streitfragen betrafen das Thema Fernsehen. Die computerausgewerteten Resultate wurden im Januar 1972 präsentiert.
Im Jahr 1972 fand ein ORAKEL über Mitbestimmung statt, zu dem uns keine Informationen vorliegen. Generell drangen in das Fernsehen der 1970er-Jahre interaktive Elemente ein. Der WDR bot Programme unter dem Obertitel „Anruf erwünscht“ an. Die Freunde der populären ZDF-Show „Wünsch Dir was“ konnten sich durch das Einschalten von Lampen und Hausgeräten oder der Klospülung artikulieren. 1977 leitete der jungen Thomas Gottschalk Zuschauer im Studio und am Telefon dazu an, mit Stimmkraft Telespiele zu gewinnen.
1972 brachte Helmut Krauch seine Erlebnisse im westdeutschen Fernsehen zu Papier. Der Titel seines Buches lautete „Computer-Demokratie“; darunter verstand er ein Gemeinwesen, in dem wichtige Fragen nach gründlicher Vordiskussion über Funk und Fernsehen durch direkte Abstimmung entschieden werden. Die Seiten des Buches durchzieht ein spürbares Misstrauen gegen die parlamentarische Staatsform; der Autor hoffte wohl wirklich auf eine elektronische Volksherrschaft.
In seinem Werk berichtete Krauch von einer Umfrage, die er unter 39 Sachverständigen zu seinem Thema vornahm. Die Mehrzahl von ihnen erwartete jene Demokratie irgendwann im 21. Jahrhundert. Zwischen 1985 und 1995 rechneten sie mit einer Technik, um Kopien von Farbbildern „durch Knopfdruck aus dem Fernseher zu ziehen“. Für die 1980er-Jahre sahen sie Multikanal-Fernseher über Satellit und Kabel und mit freier Programmwahl voraus. Bis zum Jahr 2000 würde sich ihrer Ansicht nach das Bildtelefon verbreiten.
Die interessanteste Frage an die 39 Experten war die folgende: „In wieviel Jahren von heute an gerechnet wird es in 50 % aller Haushalte in der Bundesrepublik Computer-Anschlüsse geben einschließlich der Möglichkeit, ebenfalls durch Knopfdruck Kopien zu erhalten?“ Die Antworten umrissen ziemlich genau die 1990er-Jahre. Selbst wenn wir annehmen, dass den Experten der Anschluss an einen Zentralrechner und kein Heimcomputer vorschwebte, ist das ein sehr guter Treffer.
Von 1972 bis 1992 arbeitete Krauch in der Gesamthochschule Kassel als Professor für Systemdesign. Als Pensionär faszinierte ihn besonders der Stirlingmotor, wie das Video beweist. Das Internet lernte Helmut Krauch noch in allen Formen und Farben kennen; er starb 2010 in Heidelberg. Unser Eingangsfoto zeigt einen Computer ähnlich dem, der 1971 beim WDR stand – man beachte den Monitor (Foto Bundesarchiv, B 145 Bild-F038812-0022 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA 3.0).