Der Computer ist der Kopf
Geschrieben am 02.01.2018 von HNF
1750 erschien der erste Rechenkünstler, der die Fachleute verblüffte. Das war der englische Landarbeiter Jedediah Buxton; er erledigte lange Multiplikationen nur mit der Kraft des Geistes. Der erste deutsche Superrechner war etwa ein Jahrhundert später Zacharias Dase aus Hamburg. Bis heute treten immer wieder Menschen hervor, deren mathematische Kräfte denen von Taschenrechnern und Computern gleichkommen.
Mit dem Lesen und Schreiben haperte es, doch Zahlen waren seine Freunde. Wenn Jedediah Buxton ein Stück Land abschritt, kannte er anschließend seine Fläche in jeder denkbaren Einheit. Im Jahr 1751 besuchte ihn ein Journalist aus den fernen London und fragte nach dem Produkt von 423 Yards und 383 Yards. Die richtige Antwort – 162.009 Quadratyards – kam nach zwei Minuten. Nach elf Minuten folgte alles in den altertümlichen englischen Maßen: „33 acres, 1 rood, 35 perches, 20 yards, and a quarter just.“
Der Landarbeiter Jedediah Buxton, geboren 1707 in Elmton bei Sheffield und 1772 daselbst verstorben, war der erste europäische Rechenkünstler. Zwar gab es schon vorher exzellente Kopfrechner wie den Mathematiker John Wallis, dem wir im Blog begegneten. Aber Buxton beeindruckte Presseleute und regte Wissenschaftler zu Untersuchungen an. Ein Mensch war erschienen, der ohne Hilfsmittel lange Zahlen im Kopf behalten und mit ihnen die schwierigsten Rechnungen anstellen konnte.
Auch in der englischen Kolonie Virginia lebte ein Mann, der dieses Talent besaß. Bekannt wurde Thomas Fuller erst 1789, als Virginia zu den neuen Vereinigten Staaten gehörte. Damals war er schon siebzig, doch brauchte er nur zwei Minuten, um die Zahl der Sekunden in anderthalb Jahren anzugeben – 304.000. Eine Schule hatte Fuller nie besucht. Er gelangte als Sklave von Westafrika nach Amerika und blieb einer bis zu seinem Tod 1782. Es ist nicht auszuschließen, dass es als kleiner Junge in Afrika das Kopfrechnen lernte.
Erster Superrechner des 19. Jahrhunderts war der 1804 im US-Bundesstaat Vermont geborene Zerah Colburn. Sein Talent zeigte sich bereits im Kindesalter. Sein Vater tourte mit ihm durchs Land. Später wurde er Professor an einem College; er starb 1839. Auch der 1806 in Südengland geborene George Parker Bidder, Sohn armer Eltern, musste als „calculating boy“ auftreten. Zum Glück fand er reiche Förderer, die eine gute Schule und ein Studium finanzierten. Bidder wurde Ingenieur und baute Eisenbahnstrecken in Europa und Asien.
Ein mathematisches Wunderkind war ebenso Truman Henry Safford. Er kam 1836 wie Colburn in Vermont zur Welt. Mit neun Jahren quadrierte er eine 18-stellige Zahl in einer Minute im Kopf. Er arbeitete später als Astronom. Sein Landsmann Daniel McCartney, geboren 1817 in Pennsylvania, verfügte über eine Doppelbegabung. Er war Schnellrechner und erinnerte sich außerdem an jede Minute seines Lebens nach dem 9. Geburtstag. Er merkte sich das Wetter und die Ereignisse des Tages. Dabei war er fast völlig blind.
Der erste deutsche Meisterrechner hieß Zacharias Dase. Er wurde 1824 in Hamburg geboren, wo sein Vater eine Schenke betrieb. Mit 15 Jahren trat er öffentlich auf; seine besten Jahre waren 1844 und 1845. Im Internet findet sich eine Sammlung von Lobeshymnen auf ihn, die er 1856 herausgab. Damals arbeitete er im Preußischen Finanzministerium in Berlin. Neben seinen Vorführungen erstellte Dase Logarithmen- und Faktorentafeln. 1844 ermittelte er in zwei Monaten 200 Nachkommastellen der Kreiszahl Pi. Er starb 1861 in Hamburg.
Sein Nachfolger war Friedrich Albert Heinhaus, Jahrgang 1848, aus Wermelskirchen. Er saß zunächst im Büro; ab 1890 feierte er Erfolge als Blitzrechner. Auch der Amerikaner Arthur Griffith (1880-1911) und August Tischer (1882-1928), der Braunschweiger Rechen-August, standen auf der Bühne. Eine lange Karriere im mathematischen Showgeschäft absolvierte der Italiener Giacomo Inaudi. Geboren 1867, war er zunächst Hirte. Von 1881 bis 1945 verdiente er sein Geld im Reich der Zahlen. Fünf Jahre später ist er gestorben.
Bis ins hohe Alter rechnete ebenso Willie the Wizard. Willis Dysart kam 1923 im US-Staat Georgia zur Welt und entdeckte als Schuljunge sein Zahlentalent. Er lebte dann ganz gut davon; hier ist eine Radioübertragung von einem Auftritt im Jahr 1938. 2006 legte er sich eine Homepage zu; er verstarb 2011. Noch sehr aktiv – und natürlich viel jünger – ist sein Landsmann Arthur Benjamin. Der 1961 geborene Mathematiker verbindet in seinen Shows Zauberei und Rechenkunst. Im Hauptberuf lehrt er diese in einem College in Kalifornien.
Damit wären wir bei richtigen Mathematikern. Einen legendären Ruf als Kopfrechenkünstler genoss John von Neumann; auch sein Kollege Alexander Aitken galt als „menschlicher Computer“. Ein besonderes Zahlenverständnis besaß Srinivasa Ramanujan. In seinem kurzen Leben – er starb 1920 mit nur 32 Jahren – formulierte der Inder Tausende von Gleichungen aus der Zahlentheorie und der Differentialrechnung. Er bewies nur einen Bruchteil von ihnen, doch sah er wie kein anderer ins Herz der Mathematik.
Heute rechnen so viele Rechenkünstler wie nie zuvor. Zwei von ihnen, Rüdiger Gamm und Gert Mittring, traten auch im HNF auf. In der neuen Generation findet sich mindestens eine junge Frau: Es ist die Inderin Priyanshi Somani, die der Zahlenmeisterin Shakuntala Devi nacheifert. Unser Eingangsbild (Foto CERN) zeigt Wim Klein, der von 1958 bis 1976 im CERN arbeitete; der Holländer war wohl der größte Kopfrechner des 20. Jahrhunderts.
Auch der berühmte Kernphysiker Enrico Fermi betätigte sich als menschlicher Computer in Los Alamos beim Bau der Atom- und Wasserstoffbombe – neben den Kollegen Bethe, Feynman, Weißkopf oder Metropolis. Er war spezialisiert auf quantitative Abschätzungen bei Problemen, zu denen zunächst keine empirischen Daten zur Verfügung standen. Beispielsweise warf er beim ersten Atombombentest (Trinity-Test) Papierschnipsel in die Luft und beobachtete, wie weit diese durch die Druckwelle weggeblasen wurden; daraus konnte er direkt vor Ort die ungefähre Sprengkraft der Bombe abschätzen, lange bevor die Sensormessungen ausgewertet waren. Solche Fragestellungen heißen heute Fermi-Problem oder Fermi-Frage (nach Wikipedia)