Der Dada-Computer
Geschrieben am 05.02.2016 von HNF
Mitten im 1. Weltkrieg, am 5. Februar 1916, begann in Zürich die künstlerische Bewegung des Dadaismus. Wenige Jahre später erreichte sie Berlin, wo der in Wien geborene Raoul Hausmann lebte. Hausmann schuf nicht nur Dada-Werke, sondern grübelte auch über Physik nach und erfand 1930 eine originelle Rechenmaschine, für die er 1936 ein englisches Patent erhielt.
Unter den vielen „-ismen“, die uns die Kunst des 20. Jahrhunderts bescherte, war er wahrscheinlich der verrückteste: der Dadaismus. Als Geburtsort gilt die Stadt Zürich, wo der deutsche Emigrant Hugo Ball, ein Schriftsteller und Dramaturg, am 5. Februar 1916 das Cabaret Voltaire gründete. Aus den Auftritten von Ball, seiner Freundin Emmy Hennings sowie deutschen und rumänischen Mitstreitern entstand eine satirisch-polemisch-pazifistische Anti-Kunst, die sich über ganz Europa ausbreitete.
Im März 1918 öffnete in Berlin ein Club Dada. Im April erschien das Dadaistische Manifest, das die Ziele der Avantgardisten in der Reichshauptstadt beschrieb. Einer der aktivsten war der 1886 in Wien geborene und seit 1900 in Berlin ansässige Raoul Hausmann. Er rezitierte Lautgedichte, klebte Fotomontagen und schuf aus einem Holzkopf, an dem Friseurlehrlinge das Perückenmachen gelernt hatten, den Mechanischen Kopf. Höhepunkt des Berliner Dada-Daseins war die Erste Internationale Dada-Messe im Sommer des Jahres 1920. Das Eingangsbild zeigt ihn 1922 mit Künstlerfreunden in Düsseldorf: Er ist der Zweite von links.
Der Dadasoph, wie sich Hausmann gerne nannte, interessierte sich sehr für Wissenschaft, hing aber auch manchem Irrglauben an wie der Äthertheorie oder der seit 1918 grassierenden Welteislehre. Seriöser waren seine technischen Ideen. Hausmann verfolgte die neuesten Entwicklungen auf den Gebieten des Fernsehens und Tonfilms und beschäftigte sich mit den Methoden der Optophonetik, die Schallwellen in Lichterscheinungen und Lichter wieder zurück in Töne verwandelte.
Am 21. Februar 1929 erhielt er ein Patent mit der Nummer DRP 473 166 für eine „Vorrichtung zum Beobachten von Körperhöhlen und -röhren“ – heute sagt man dazu Endoskop. Im Mai des Folgejahres kam er auf das Konzept einer Rechenmaschine, das mechanische, optische und – in Gestalt einer Fotozelle – sogar elektronische Elemente enthielt. Die Grundidee stammte dabei von einem jungen Bekannten Hausmanns, dem russischen Ingenieur Daniel Broido.
1930 und 1931 bemühte sich Hausmann vergeblich, seine Maschine in Berlin patentieren zu lassen. Zum Ziel führte erst 1934 eine Anmeldung in London, die die Erfinder gemeinsam einreichten, als sie schon beide im Exil lebten, Hausmann in Spanien und Broido in England. Am 27. April 1936 erhielten sie das britische Patent Nr. 446,338 für „Improvements in and relating to calculating apparatus“.
Worauf beziehen sich nun die Verbesserungen? Das zeigt die Grafik oben aus der Patentschrift und speziell „Fig. 2“. Hier erkennt man die zwei horizontalen Achsen von Hausmanns Rechenmaschine. Auf der oberen Achse sitzt ein drehbarer und verschiebbarer Zylinder, der in 81 Felder zu je zwei Halbfeldern unterteilt ist. In die Halbfelder sind Schlitze geschnitten, deren genaue Lage eine Ziffer ausdrückt. In ihrer Gesamtheit codieren die Schlitze – das zeigt „Fig. 1“ – das kleine Einmaleins. Im Inneren des Zylinders steckt außerdem eine Glühbirne, die jeweils das Feld genau vor ihr beleuchtet.
Die untere Achse ist ähnlich aufgebaut, doch trägt der Zylinder jetzt neun gegeneinander versetzte Schlitze, siehe „Fig. 3“, im Inneren sitzt eine Fotozelle. Die Grundoperation ist die Multiplikation zweier einstelligen Zahlen, etwa 8 und 4. Hierbei wird der obere Zylinder um vier Positionen gedreht und um acht verschoben, sodass das Feld, welches das Produkt 32 codiert, vor die Glühbirne rückt. Danach wird mit dem unteren Zylinder die 2 von 32 gelesen: Der Zylinder wird um zwei Positionen gedreht, sodass Schlitz an Schlitz liegt und – bingo – die Fotozelle anspricht.
Die gerade gelesene 2 wird im Resultatwerk rechts auf der unteren Achse im Einerring gespeichert. Der Zylinder rückt nun ein Stück weiter und dreht sich erneut. Man kann sich denken, was passiert: Nach drei Positionen liegt ein Lese-Schlitz genau an dem Schlitz, der die 3 von 32 verkörpert, die Fotozelle wird wieder aktiv und die 3 in den Zehnerring des Resultatwerks übertragen. Kompliziert wird es bei mehrstelligen Faktoren. Hier muss man die Teilprodukte der Multiplikation nacheinander ausführen und die einzelnen Ergebnisse im Resultatwerk aufaddieren.
Das Abarbeiten der Teilprodukte, wie wir es von der Multiplikation mit Papier und Bleistift kennen, erinnert an die Schickard-Rechenmaschine, die wir in einem früheren Blog-Beitrag schilderten. Bei ihr liest man die Ergebnisse jener Produkte mit eigenen Augen ab und gibt sie mit eigener Hand in den Addiermechanismus ein. Die Zeit, die die Hausmann-Maschine durch die Fotozelle gewinnt, geht aber durch die umständliche Prozedur verloren; die obige Rechnung aus der Patentschrift deutet das an.
Es wurde also nichts mit „Big Dada“. Hausmann ließ sich nach Jahren der Flucht 1944 im französischen Limoges nieder, wo er bis zu seinem Tod 1971 wohnte. Daniel Broido blieb in England und machte Karriere in der Computerindustrie; er starb 1990. Die Unterlagen zu Hausmanns Rechenmaschine liegen in der Berlinischen Galerie und wurden 2013 im Buch „Dada-Wissenschaft“ veröffentlicht. Seine Patente lassen sich – bitte „Raoul Hausmann“ in die Erfinderzeile tippen – aus der Datenbank des heutigen Patentamts herunterladen.
Als Eingabegerät für den Dada-Computer hätte sich die BLA-BLA-Schreibmaschine von Willy Moese angeboten! Die von dem DDR-Karikaturisten umgebaute „Adler“ besaß nur die Typenhebel für die Buchstaben B, L und A.