Ein Elektronengehirn in New York
Geschrieben am 26.01.2018 von HNF
Vor nunmehr siebzig Jahren, am 27. Januar 1948, weihte die Firma IBM den Selective Sequence Electronic Calculator SSEC ein. Der frei programmierbare Elektronenrechner stand im Erdgeschoss eines Gebäudes neben dem New Yorker Hauptquartier. Der SSEC enthielt 12.500 Röhren, außerdem Tausende von Relais und Lochbänder zum Speichern von Zahlen. Er war bis Juli 1952 in Betrieb.
Achtung! „In New York wurde die größte mechanische Rechenmaschine der Welt in Betrieb genommen. Dieses Elektronengehirn kann addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren. Von einem Pult aus erfolgt die Kontrolle des komplizierten Mechanismus. Mit unheimlicher Präzision und Schnelligkeit werden Aufgaben gelöst, zu deren Berechnung Hunderte von Mathematikern ein ganzes Leben brauchen würden.“
Und weiter: „Das elektrische Gehirn bewältigt in einer einzigen Sekunde 3.500 Additionen oder Subtraktionen. Es ist imstande, sich 400.000 Ziffern zu merken und 24.000 Aufgaben in einer Minute zu lösen. Ein unaufhörlicher Zahlentanz begleitet die Operationen des Elektronengehirns. Seine erste Aufgabe ist es, die Positionen des Mondes für die nächsten zwei Jahrhunderte im Voraus zu errechnen. Diese Arbeit wird voraussichtlich innerhalb von zwei Jahren gelöst sein.“
Das erzählte eine Wochenschau, die westdeutsche Kinogänger ab dem 5. März 1948 sahen; wir können sie heute – bitte zu Minute 2:40 gehen – im Netz nacherleben. Der Titel lautete „Wunder der Technik: Das mechanische Rechengenie“. Der danach folgende Film dürfte der erste gewesen sein, der hierzulande einen lebendigen Computer zeigte. Wobei der Welt-im-Film-Texter noch unschlüssig war, ob er es mit einem Elektronengehirn, einem elektrischen Gehirn oder nur mit einer mechanischen Rechenmaschine zu tun hatte.
Name und Herkunft des Geräts erfuhren die Kinobesucher damals nicht. Wir tragen es gerne nach: Das Technikwunder kam von der Firma IBM, die 1948 vor allem Lochkartenmaschinen baute. Aufgestellt wurde der Selective Sequence Electronic Calculator, was so viel heißt wie Elektronenrechner mit wählbarer Befehlsfolge, in einem Gebäude neben der Firmenzentrale in Manhattan. Dort belegte der SSEC die Räume eines früheren Schuhgeschäfts. Tag und Nacht arbeitete er hinter den Schaufenstern und erstaunte die Passanten.
Der SSEC war der zweite Großrechner der IBM. Der erste, der relaisbestückte Automatic Sequence Controlled Calculator ASSC, lief seit 1944 in der Harvard-Universität. Den Ruhm schöpfte aber sein Entwickler ab, der amerikanische Computerpionier Howard Aiken. Beim Nachfolger behielt IBM-Chef Thomas Watson alle Fäden in der Hand. Der SSEC wurde ab 1945 im Watson-Rechenlabor entworfen, das er schon 1937 der New Yorker Columbia-Universität stiftete. Die Montage erfolgte in der IBM-Fabrik von Endicott im Bundesstaat New York.
Bei den Schaltkreisen orientierten sich die Ingenieure am elektronischen Multiplizierer IBM 603. Er enthielt 300 Röhren und wurde ab 1946 verkauft; wir stellten ihn 2017 im Blog vor. Der SSEC erhielt 12.500 Röhren; sie verteilten sich über die Rechen- und Steuereinheit und acht Register. Dazu kamen 21.500 Relais, die gleichfalls für die Steuerung sowie für 150 Speicherplätze genutzt wurden. Als Massenspeicher dienten breite Lochbänder; sie fassten 400.000 Dezimalziffern und konnten nur mechanisch geändert werden.
Dazu gab es Ein- und Ausgabegeräte für IBM-Lochkarten und einen Drucker. Das Zentrum der Anlage bildete ein gewaltiges Steuerpult, an dem in den meisten Fotos die Chefoperatorin Elizabeth Stewart sitzt. Wir sehen sie auch im Eingangsbild (Foto Loyola University Chicago). Für eine Addition oder Subtraktion brauchte der SSEC 285 Mikrosekunden; Multiplikationen und Divisionen dauerten 20 Millisekunden. Insgesamt vermischten sich im SSEC Elektronik, Elektro- und reine Mechanik. Der Drucker wurde noch mit einer Stecktafel programmiert.
Erster SSEC-User war der Astronom Wallace Eckert. Er lehrte in der Columbia-Universität und zog schon in den 1930er-Jahren IBM-Lochkartenmaschinen für viele wissenschaftliche Berechnungen heran. Er wurde dann Leiter des Watson-Labors und Chef-Wissenschaftler der IBM. Mit dem neuen Computer ermittelte er die Positionen des Mondes im Abstand von zwölf Stunden über 200 Jahre hinweg. Für eine Rechnung brauchte der SSEC sieben Minuten. Die Operationen begannen schon im Dezember vor der offiziellen Einweihung des SSEC.
In Dienst gestellt wurde der Elektronenrechner am 27. Januar 1948. IBM-Direktor Thomas Watson hob bei der Feier den Nutzen für die Wissenschaftler in der Lehre, im Staatsdienst und in der Wirtschaft hervor. Den Computer wurde später allerdings auch für die Lösung mathematischer Probleme eingesetzt, die beim Entwickeln der Wasserstoffbombe auftraten. Die Baukosten des SSEC betrugen 750.000 Dollar, die Nutzungsgebühr 300 Dollar pro Stunde. Akademische Forscher durften gratis rechnen.
Zu den Programmierern und Operatoren, die den SSEC in Gang hielten, zählte auch der junge Mathematiker John Backus. Er erfand später die Programmiersprache Fortran. Im Jahr 1979 erinnerte sich Backus daran, dass der IBM-Riese in der Regel alle drei Minuten stehenblieb. Er hielt aber noch bis Juli 1952 durch und wurde dann demontiert. An seine Stelle trat ein anderer und kleinerer Röhrenrechner. Das eindrucksvolle SSEC-Steuerpult überlebte in der historischen Sammlung der Computerfirma.
Vor dem Rückbau des Computers entstand ein zweiter Film, in dem er kurz zu sehen war. „Walk East on Beacon“ schilderte die Untaten von sowjetischen Agenten in den USA. Der Schotte Finlay Currie spielte einen deutschstämmigen Forscher, der mit dem SSEC geheime militärische Probleme löst. Er wird prompt von den Russen erpresst, doch am Ende geht alles gut aus. Hier ist der Clip mit dem Computer und hier der ganze Film. Viel Spaß!