Ein Modem, ein Computer und CompuServe
Geschrieben am 24.09.2019 von HNF
Im Oktober feiern wir den fünfzigsten Geburtstag des ARPANET. So hieß 1969 die Urform des Internets. Im gleichen Jahr startete im US-Bundesstaat Ohio die Firma Compu-Serv. Bei ihr konnten Unternehmen Rechenzeit mieten. Ab dem 1. Juli 1979 bot sie das MicroNET für kleine Computer an, auch bekannt als CompuServe. Es war das erste große Netzportal.
„Wenn es dunkel wird …, beginnt Thomas Janke, 28, seinen allnächtlichen Zug um die Häuser – am PC. Ohne den Schreibtisch zu verlassen, durchstreift der Software-Berater aus dem rheinischen Willich das Globale Dorf der internationalen Datennetze. Im fahlen Schein des Computerbildschirms ‚klickt‘ sich Janke zuerst mittels PC-Maus schnurstracks zu einem Großrechner im rund 8000 Kilometer entfernten Columbus (US-Staat Ohio) durch…“
Das berichtete der SPIEGEL am 26. April 1993. Der Artikel schilderte aber nicht das World Wide Web, das sich damals langsam über die Erde ausbreitete. Thomas Janke nutzte einen kommerziellen Dienst aus den USA. Dieser unterhielt schon eine Filiale im bayerischen Unterhaching und der SPIEGEL schrieb: „Konsumfreudige Online-Fans in Deutschland, vom lahmen BTX-Dienst und den improvisierten Mailbox-Netzen bislang nicht verwöhnt, erleben nun Compuserve als elektronisches Schlaraffenland.“
Im Geschäft war das Märchenland seit 1969. Damals legte sich die Golden United Life Insurance Company, eine Versicherung im erwähnten Columbus, eine Tochtergesellschaft zu. Die Compu-Serv Network Inc. erhielt eine PDP-10, einen Großcomputer des Herstellers Digital Equipment. Damit unterstützte sie die Mutterfirma; außerdem wurde Rechenleistung nach dem Time-Sharing-Prinzip an andere Unternehmen vermietet. Der Datenfluss erfolgte bereits über Telefonleitungen.
Das Geschäft lief besser als erwartet. Nach einigen Jahren trennte sich Compu-Serv von der Mutter und wurde zur Aktiengesellschaft. 1977 nannte sie sich CompuServe. Inzwischen summten ein Dutzend Mainframes in zwei Rechenzentren. Der einzige Schönheitsfehler war, dass die Computer nachts und am Wochenende nicht voll ausgelastet wurden. CompuServe-Chef Jeff Wilkins hatte eine Idee: Warum bieten wir die freie Kapazität nicht den Benutzern von Heimcomputern an? Viele von ihnen besaßen Modems und Akustikkoppler, ähnlich dem Gerät in unserem Eingangsbild.
Ab dem 1. Mai 1979 kamen die Mitglieder lokaler Computerclubs gratis in das MicroNET von CompuServe hinein. Am 1. Juli machte die Firma das Netzwerk landesweit bekannt, sie erhob jetzt allerdings Gebühren. Beim Anmelden waren dreißig Dollar fällig, eine Stunde Nutzung kostete zwölf Dollar zur Bürozeit und fünf Dollar zu den übrigen Stunden. Geboten wurden der Zugang zu Mailboxen, die Möglichkeit, Datenbanken anzulegen und Programme zu verkaufen sowie eine Palette von Software und Computerspielen.
Am Jahresende hatten sich schon 1.200 User eingefunden. 1980 trug auch das MicroNET das Label CompuServe; die gleichnamige Firma wurde vom Steuerberatungshaus H&R Block übernommen. Sie baute ihr Angebot kontinuierlich aus; ein großer Erfolg war der Online-Chat CB Simulator. CompuServe lieferte digitale Zeitungen und viele andere Informationen; der Infoplex-Dienst brachte elektronische Post. Die Adressen bestanden aus zwei Zahlen. So war US-Präsident Bill Clinton in den Neunzigern unter 75300,3115 erreichbar.
1987 hatte CompuServe 380.000 Kunden, 1989 eine halbe Million. Im Frühjahr 1993, als unser SPIEGEL-Artikel entstand, waren 1,2 Millionen Menschen angeschlossen, 1994 wurde die Zwei-Millionen-Schwelle geknackt. Schon im Juli 1979, wenige Tage nach dem Start des alten MicroNET, stellte sich Konkurrenz ein. Das Netzwerk The Source versammelte aber nur 80.000 Interessenten; 1989 wurde es von CompuServe geschluckt. Ebenso populär wie CompuServe war in den frühen 1990er-Jahren das Portal Prodigy.
1995 konnte sich CompuServe über drei Millionen Nutzer freuen. 27 Millionen bediente jedoch der Dienst von America Online. AOL war billiger als CompuServe und übernahm es 1998. Das endgültige Ende kam am 6. Juli 2009 als Compuserve Classic abgeschaltet wurde. Damit schloss das älteste Internet-Portal, das nicht dezentral wie das World Wide Web, sondern zentralistisch und vor allem gebührenpflichtig aufgebaut war.
An die goldene Ära der Akustikkoppler erinnerte ein kanadischer Film von 1983. Aus dem Jahr 2016 stammt ein Podcast mit CompuServe-Veteran Jeff Wilkins. Der SPIEGEL erschien auf seinem Online-Portal am 30. April 1994. Ins World Wide Web gelangte das Magazin erst sechs Monate später, am 25. Oktober 1994.