Es begann mit der Keilschrift
Geschrieben am 02.11.2021 von HNF
Zum 25. Geburtstag erhielt die Dauerausstellung des Heinz Nixdorf MuseumsForums einen neuen Eingangsbereich. Wer mit der Rolltreppe ins erste Obergeschoss fährt, läuft direkt darauf zu. Beleuchtete Flächen locken in die Ausstellung; sie deuten Schrifttafeln aus Ägypten und dem Zweistromland an. Zwischen Euphrat und Tigris gab es nicht nur die Keilschrift, sondern auch mathematische Kenntnisse.
Eine Hochkultur benötigt ein System für die Kommunikation und die Bürokratie. Im alten China, im pharaonischen Ägypten und in Mesopotamien finden wir deshalb Schriften und Zahlzeichen. Das HNF konzentriert sich auf das Zweistromland. Der zum Jubiläum geschaffene neue Eingang zur Dauerausstellung zeigt zwei Reihen blau leuchtender Stelen; sie erwecken Assozoationen mit Texttafeln aus dem alten Babylon. Wenn die Besucher sie durchschreiten, treten sie in die Welt der Keilschrift ein.
Sie entstand im späten 4. Jahrtausend v. Chr. in der Region zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris. Die Archäologen sprechen von der Uruk-Zeit und der Uruk-Kultur, benannt nach dem gleichnamigen Ort. Uruk, das Erech des Alten Testaments, lag damals am Euphrat und nahe der Stadt Ur, der Heimat von Abraham. Im heutigen Irak sind die Ruinen zwanzig Kilometer vom Strom entfernt. Uruk war ein wirtschaftliches, politisches und religiöses Zentrum; in seinen Mauern lebten zeitweise 50.000 Menschen, wenn nicht mehr.
Um die Mitte des vierten vorchristlichen Jahrtausends benutzten sie Zählmarken aus Ton, um die Buchführung zu erleichtern. Sie waren unterschiedlich geformt und standen für bestimme Güter. Beamte und Kaufleute verwahrten die Marken in Tonkugeln, die auf der Außenseite einen Siegelabdruck trugen; ebenso wurde ihre Zahl vermerkt. Ab 3.300 v. Chr. ritzten die Schreiber bildliche Darstellungen und Mengenangaben in feuchte Tontäfelchen, die anschließend gebrannt wurden. Dabei kannten sie mehrere Systeme – Stückzahlen wurden anders notiert als Hohlmaße.
Neben administrativen Belegen fanden die Archäologen auch noch Wortlisten. Sie führten Bezeichnungen aus Geographie, Fauna und Flora sowie von Gütern und Personen auf. Aus Bildern und Zeichen entwickelte sich die Keilschrift, die eine Kultur des Zweistromlands an die nächste weitergab. Sie wurde von Sumerern, Akkadern, Elamiten, Babyloniern, Assyrern, Medern, Hethitern, Persern und Parthern benutzt. Im Laufe der Zeit traten Veränderungen und Vereinfachungen auf, im ersten nachchristlichen Jahrhundert starb die Keilschrift aus.
Seit dem 19. Jahrhundert können Experten Keilschrift-Dokumente lesen; archäologische Museen und Sammlungen verwahren eine halbe Million von ihnen. Allerdings sind nicht alle analysiert und publiziert. Gelegentlich machen sie Schlagzeilen, etwa wenn es um Auszüge aus dem legendären Gilgamesch-Epos geht. Seit 1998 digitalisieren die Mitglieder der Cuneiform Digital Library Initiative Keilschrift-Texte. Der Bestand des Vorderasiatischen Museums Berlin wurde 2001 erschlossen; ein Teil lässt sich auf Wikipedia besichtigen.
Im zweiten vorchristlichen Jahrtausend existierte im Zweistromland eine voll ausgebildete Rechenkunst auf Basis der Zahl 60. Aus altbabylonischer Zeit zwischen 1.800 und 1.600 v. Chr. sind mehrere hundert Tontäfelchen erhalten, darunter eines, das Kenntnisse der Quadratwurzel verrät. In dezimaler Schreibweise gibt es sechs Stellen der Wurzel aus 2 korrekt wieder. Weniger genau waren die Babylonier bei der Kreiszahl Pi; sie verwendeten den Wert 25/8 oder 3,125. Der korrekte Wert liegt nahe bei 3,14159.
Die jüngste Entdeckung zur babylonischen Mathematik wurde im Sommer 2021 gemeldet. Ein australischer Forscher stieß in einem Museum in Istanbul auf ein Keilschrift-Dokument von einem Landvermesser, siehe Foto oben. Es löste prompt einen Gelehrtenstreit aus. In den Bereich des HNF fallen Rechentafeln. Zu ihnen gibt es eine Studie des amerikanischen Mathematikers Tony Phillips. Einen weiteren Artikel zum Thema schrieb die englische Altorientalistin Eleanor Robson. Informative Übersichten finden sich hier und hier.
In den 1960er-Jahren verband der österreichische Astronom Konradin Ferrari d’Occhieppo die mesopotamische Wissenschaft mit dem Stern von Bethlehem. Seiner Ansicht nach sahen Astronomen in Babylon die Annäherung von Jupiter und Saturn im Jahr 7 v. Chr. als himmlisches Zeichen und reisten nach Jerusalem; sie waren die Weisen, die dem kleinen Jesus Geschenke darbrachten. Ferrari d’Occhieppos Theorie hält einer kritischen Prüfung nicht stand, sie zeugt aber vom Nachwirken der Keilschrift auch außerhalb des HNF.
Eine erstklassige Zusammenfassung, short and to the point!
Vielleicht bliebe noch zu erwähnen, dass das HNF in seinem neuen Zugang zur Dauerausstellung unter anderem auch die exakten Replikate zweier Tontäfelchen präsentiert, welche die Berechnung der Diagonalen eines Quadrats und Berechnungen zum „pythagoräischen“ Dreieck zeigen. Womit deutlich wird, dass diese Dreiecksberechnung im Zweistromland eben schon lange vor den Griechen bekannt war.
Die Keilschrift wurde übrigens auch digitalisiert, also in einen Font umgesetzt, um sie international für Forschungszwecke besser verwendbar zu machen:
Bergerhausen, Johannes: Digitale Keilschrift. Digital cuneiform. (Vlg. Hermann Schmidt) Mainz (2014).