Fotos aus Antikythera
Geschrieben am 06.11.2020 von HNF
2016 stellten wir im Blog den Mechanismus von Antikythera vor, das älteste mechanische Rechengerät. Damals wurden viele neue Einzelheiten zu ihm bekannt. Heute möchten wir Fotos behandeln, die der Altphilologe Albert Rehm 1905 oder 1906 aufnahm. Die Bayerische Staatsbibliothek setzte sie im Sommer ins Internet. Sie bringen uns das Gerät so nah wie nie zuvor.
Albert Rehm ist heute fast vergessen. Er wurde 1871 in Augsburg geboren, besuchte das Gymnasium und studierte die alten Sprachen in München und Berlin. Nach der Promotion 1896 arbeitete er als Schullehrer, war aber auch archäologisch tätig. Ab 1906 lehrte er an der Münchner Universität; 1930/31 und ebenso nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bekleidete er das Rektorat. Er starb 1949. Die Bayerische Staatsbibliothek in München verwahrt seinen Nachlass unter dem Titel Rehmiana.
1905 und 1906 untersuchte Rehm in Athen den Mechanismus von Antikythera. So nannte die Fachwelt Fragmente eines Geräts, die aus einem Wrack im Mittelmeer stammten. Die Insel Antikythera liegt nordwestlich von Kreta; in ihrer Nähe geriet im 1. Jahrhundert vor Christus ein Schiff in Seenot und sank. Die Überreste fanden Schwammtaucher im Jahr 1900 in 55 Metern Tiefe. In Bergungsaktionen wurden außer dem Mechanismus noch Skulpturen, Münzen, Schmuck und Keramik ans Licht gebracht, dazu menschliche Knochen und Zähne.
Albert Rehm war der erste Forscher, der die Fragmente richtig deutete: Sie bildeten einst ein Planetarium, eine mechanische Darstellung des Sonnensystems mit der Sonne im Zentrum. Der Mechanismus gehörte nicht zur Ausrüstung des Schiffs, sondern zu seiner Fracht. Die Objekte an Bord waren vielleicht für einen reichen Römer bestimmt, der sie in Griechenland gekauft hatte oder kaufen ließ. Die schlechte Nachricht ist, dass Rehm seine Notizen kaum publizierte. Was er zu Antikythera zu Papier brachte, schlummert in seinem Nachlass.
Das galt auch lange für die Fotos, die Rehm vom Mechanismus aufnahm. Einige gelangten über Umwege ins Internet. Seit 2019 können wir early photos from Rehm Nachlass in dem digitalen Archiv der New York University studieren. Sie gehen auf Fotokopien des englischen Wissenschaftshistorikers Derek de Solla Price zurück; seine Sammlung verwahrt das Adler-Planetarium in Chicago. Price brachte 1959 durch den Artikel An Ancient Greek Computer im Magazin „Scientific American“ die moderne Antikythera-Forschung in Gang.
Im Sommer 2020 fasste die Münchner Bibliothek den weisen Entschluss, die Rehmschen Originale online zu setzen. Im bayerischen Kulturportal bavarikon kann man sich seitdem 21 Antikythera-Bilder anschauen. Es handelt sich um 18 Objektfotos, zwei Fotokopien und die Ansicht zweier Buchseiten. Diese enthalten Fotographien, die der griechische Numismatiker Ioannis Svoronos 1903 aufnahm. Von den Seiten – doch nicht vom selben Buch – gibt es auch eine Reproduktion im New Yorker Archiv; wir haben sie als Eingangsbild verwendet.
Die Münchner Fotos entführen uns in die 1900er-Jahre; wir schauen dem Archäologen über die Schulter und können an den Mechanismus heranzoomen. Erkennbar sind nicht nur Zahnräder, sondern auch eingravierte Texte. Heute ist bekannt, dass sie mit Astronomie zu tun haben. Ein bisschen stört beim Betrachten der Grauschleier auf den Fotos. Eine Bitte an die Bayerische Staatsbibliothek: Vielleicht lässt sich in den Rehmschen Fotos der Kontrast erhöhen, damit sie so schön aussehen wie dieser Scan auf Flickr.
Im 21. Jahrhundert verbesserte sich die Aufnahmetechnik dramatisch. Für Fotografien des Antikythera-Mechanismus stand eine innovative Methode namens Polynomial Texture Mapping zur Verfügung, eine Entwicklung der US-Konzerns Hewlett Packard. Zusätzlich kamen Geräte zur Röntgen-Tomographie der japanischen Firma Nikon zum Einsatz. Hier ist dazu ein Video. Es wurden außerdem viele Verkrustungen von den Fragmenten entfernt; die Räder sind heute besser zu erkennen als zu Albert Rehms Zeiten.
120 Jahre nach Entdeckung des Antikythera-Wracks bleiben wichtige Fragen zum Rechner offen. Wir kennen weder den Urheber noch ähnliche Objekte aus alter Zeit. Der Schriftsteller und Politiker Marcus Tullius Cicero deutete im 1. vorchristlichen Jahrhundert die Existenz komplizierter astronomischer Geräte an. Überliefert sind antike Automaten, doch sie waren simpel gestrickt und arbeiteten etwa mit Seilzügen. Zufrieden kann aber ein Ingenieur aus Essen sein: Theodor Sartoros meldete den Mechanismus von Antikythera als Erfindung an und erhielt 2013 dafür ein Patent.