Geheimnis Ultra
Geschrieben am 13.02.2018 von HNF
Das Städtchen Bletchley liegt 70 Kilometer nordwestlich von London. Das Gut Bletchley Park beherbergte im 2. Weltkrieg eine Dienstelle des englischen Geheimdienstes, die deutsche Funksprüche entschlüsselte. Im Jahr 1974 machte das Buch „Aktion Ultra“ die Aktivitäten allgemein bekannt. Schon zuvor drang manche Einzelheit über Bletchley Park in die Öffentlickeit, doch kaum jemand nahm davon Notiz.
Die Geschichte von Bletchley und Bletchley Park hat sich inzwischen herumgesprochen. Im Krieg arbeiteten hier Tausende von Menschen, darunter der Computerpionier Alan Turing. Sie knackten die Codes der Enigma und anderer Chiffriermaschinen und lasen den deutschen Funkverkehr mit. Die Government Code and Cipher School war verständlicherweise geheim. Auch nach 1945 lag ein Mantel des Schweigens über dem Entschlüsselungszentrum in der englischen Provinz. Verschwiegenheit wahrte ebenso die ehemalige Belegschaft.
Das änderte sich im Herbst 1974. Damals erschien in London das Buch The Ultra Secret des englischen Geheimdienstlers Frederick Winterbotham; bei uns kam es 1975 als „Aktion Ultra“ heraus. Es beschrieb die Vorgänge in Bletchley Park in den Jahren von 1939 bis 1945; Ultra war dabei die Tarnbezeichnung für die Inhalte der Entschlüsselungen. Die Geschichte des 2. Weltkriegs musste in mancherlei Punkten überarbeitet werden. Dasselbe galt für die Frühgeschichte des Computers und die Biographie von Alan Turing.
Informationen zu Bletchley Park schlüpften aber schon vor 1974 durch die Geheimhaltung. So verriet der amerikanische Kryptologie-Historiker David Kahn 1967 in seinem Buch „The Codebreakers“ die Existenz des Landguts – unser Eingangsbild zeigt das viktorianische Gutshaus – und skizzierte seine Aufgabe. Auch Kahns Angabe von 7.000 Mitarbeitern war erstaunlich genau. Von der Entschlüsselung von Enigma-Nachrichten berichtete er nichts. Diese Leistung wies er stattdessen den Russen zu.
David Kahns polnischer Kollege Władysław Kozaczuk veröffentlichte ebenfalls 1967 das Buch „Bitwa o tajemnice“. Darin ging es um den Kampf der Geheimdienste Deutschlands und Polens zwischen 1918 bis 1939. Kozaczuk schilderte unter anderem die Brechung der Enigma durch polnische Kryptologen. Das Buch wurde nicht übersetzt und blieb im Westen weitgehend unbekannt. 1970 wurde es kurz von Heinz Bonatz zitiert, einst Leiter des Dechiffrierdienstes der Kriegsmarine. Er bezweifelte aber die Enigma-Entschlüsselung.
Die dritte Enthüllung von 1967 gelang der „Sunday Times“. Im Dezember erwähnte die Zeitung eine „General Code and Cipher School“ in Bletchley, welche Enigma-Funksprüche decodierte. Der Artikel erschien Anfang 1968 im SPIEGEL. Ein Auszug: „Am 27. August 1941 […] fiel der britischen Marine das U-Boot U 570 mit einer intakten Enigma in die Hand. […] Ehe das Jahr zu Ende ging, hatten die Kode-Spezialisten der Navy nach der erbeuteten Enigma ein Modell hergestellt, an dem sich rekonstruieren ließ, wie die deutsche Chiffriermaschine funktionierte.“
Hier vermischen sich Dichtung und Wahrheit. In der Tat erbeuteten die Engländer Enigma-Maschinen und -Schlüsselunterlagen von deutschen Schiffen, jedoch nicht die von U 570. Und ohne Kenntnis des Tagesschlüssels war eine einzige Enigma nichts wert. Richtig lagen „Sunday Times“ und SPIEGEL bei ihren Aussages zu den U-Boot-Attacken auf alliierte Geleitzüge: „Wäre dieser Kode nicht entschlüsselt worden, hätten die Angriffe auf die Atlantik-Konvois sehr viel länger fortgesetzt werden können.“
Wir springen in das Jahr 1971 und zu Ladislas Farago. Der ungarisch-amerikanische Autor war stets umstritten, produzierte aber Bestseller über Geheimdienste. „Der Spiel der Füchse“ behandelte deutsche Spione in England und den USA. Farago wusste von der – korrekt bezeichneten – „Government Code & Cipher School“ und ihrer Aufgabe, feindliche Codes zu brechen. In seinem Buch besteht sie aber nur aus ihrem Chef Alastair Denniston und den Kryptologen Oliver Strachey und Dillwyn Knox. Alle drei, das muss man Farago zubilligen, gab es tatsächlich in diesen Funktionen.
Gegner der Dechiffrierschule war der deutsche Auslandsnachrichtendienst, die Abwehr. Sie nutzte Enigmas, und Farago schrieb: „Im Mai 1941 wurde von einem eroberten U-Boot eine intakte Enigma geborgen. Eine weitere wurde von einem Kommandounternehmen der Marine von den Lofoteninseln zurückgebracht. Und eine dritte hatte sich Commander Denniston kurz vor Ausbruch des Krieges in Polen gesichert. Bis Anfang 1942 hatte ‚Dilly‘ Knox alle Code[s] und Chiffren der Abwehr entschlüsselt.“ (S. 147/148)
Richtig sind die zwei ersten Punkte der Liste. Am 9. Mai 1941 brachte der Zerstörer „HMS Bulldog“ das U-Boot U 110 auf; dabei kamen die Engländer in den Besitz einer Enigma samt Schlüsselunterlagen. Weitere Papiere sowie Enigma-Walzen zählten zu der Ausbeute der Operation Claymore vom 4. März 1941. An jenem Tag landete eine englisch-norwegische Streitmacht auf den Lofoten vor der Küste des von Deutschland besetzten Norwegen. Dort zerstörten sie Fabriken für die Glyzerin-Produktion und mehrere deutsche Schiffe.
Von den anderen Punkten stimmt der zweite mehr oder weniger. Unter den Enigma-Typen gab es die Enigma-G, die für die Abwehr gefertigt wurde. Sie war kleiner als das Standardmodell und leichter zu entschlüsseln. In Bletchley Park wurde sie von Dillywn Knox und zwei Assistentinnen geknackt. Unterm Strich erzielte Ladislas Farago also eine ganze Reihe von Treffern. Seine Quelle war vermutlich Robin Denniston, der Sohn des 1961 verstorbenen Alastair Denniston. Außerdem leitete er Faragos englischen Verlag Hodder & Stoughton.
Unser letzter Enthüller ist der englische Informatik-Historiker Brian Randell. 1973 machte ihn die Textsammlung „The Origins of Digital Computers“ bekannt. Ein Jahr vorher verfasste er einen Aufsatz On Alan Turing and the Origins of Digital Computers. Darin trug er Material über die Computer vom Typ Colossus zusammen, die während des Krieges in Bletchley Park operierten. Zehn Spezialrechner mit Elektronenröhren analysierten deutsche Funksprüche, die mit Hilfe der Lorenz-Schlüsselmaschine codiert worden waren.
Randells Artikel war der erste, der wirklich hinter die Kulissen von Bletchley Park schaute. Seine Gewährsleute deuteten auch Alan Turings Enigma-Entschlüsselung mit Hilfe der elektromechanischen Bomben an. Tiefer gehende Details durften sie 1972 nicht verraten, da sie den Bestimmungen des Official Secrets Act unterlagen. Das Schweigegesetz galt aber nicht für den französischen Kryptologen Gustave Bertrand. Er veröffentlichte 1973 das Buch „Enigma ou la plus grande énigme de la guerre 1939-1945“ über die oben erwähnte polnische Entschlüsselung der Chiffriermaschine.
Das Werk von Bertrand wurde nie ins Englische übersetzt. Es trug aber dazu bei, dass die Mauer des Schweigens um Bletchley Park weitere Risse bekam. Nach der Publikation von Winterbothams Ultra-Buch ein Jahr später wurde immer mehr über das Leben und Treiben im Dechiffrierzentrum bekannt; Zeitzeugen durften endlich reden. Heute ist Bletchley Park weltbekannt; vor Ort laufen ein nachgebauter Colossus und die Replik einer Turing-Bombe. Weitere Geheimnisse aus der Welt der Geheimdienste werden wir rechtzeitig verraten.