Künstliche Intelligenz in den Kinderschuhen
Geschrieben am 23.11.2018 von HNF
Als Geburtsjahr der Künstlichen Intelligenz gilt 1956. Damals diskutierten Forscher im amerikanischen Dartmouth wochenlang über schlaue Computer und Programme. Die erste richtige Konferenz zur KI fand woanders statt. Über 230 Fachleute trafen sich vom 24. bis 27. November 1958 im Londoner Vorort Teddington. Dort veranstaltete das Nationale Physiklabor ein viertägiges Symposium über Mechanisierung von Denkprozessen.
1887 wurde in Berlin die Physikalisch-Technische Reichsanstalt gegründet, die heutige Physikalisch-Technische Bundesanstalt. Sie wacht über die Güte von Maßeinheiten und Messverfahren, und mit ihren Atomuhren passt sie auf, dass die Zeit richtig vergeht. Die alte Reichsanstalt diente als Vorbild für ähnliche Institute im Ausland. So begann anno 1900 die Arbeit des Nationalen Physiklabors, im Original National Physical Laboratory, in England. Unser Eingangsbild zeigt seine Zentrale in Teddington bei London.
1958 war der Ort Schauplatz eines internationalen Symposiums. Vom 24. bis zum 27. November kamen mehr als 230 Fachleute zusammen, um über „Die Mechanisierung von Denkprozessen“ zu sprechen. So lautete auch der Titel der Vortragsbände, die ein Jahr später erschienen. Damit war das Symposium die erste wissenschaftliche Tagung über Künstliche Intelligenz. Zwar wurde die KI schon 1956 auf einer Forschertreffen im amerikanischen Dartmouth-College kreiert, doch ist jenes Meeting nur unvollständig dokumentiert.
Der erste Referent von Teddington war einer der Initiatoren von Dartmouth gewesen: Marvin Minsky. Sein Überblick nutzte den 1956 vom Mathematiker John McCarthy geprägten Ausdruck „Artificial Intelligence“ alias Künstliche Intelligenz. Zwei Vorträge später sprach McCarthy selbst über KI und gesunden Menschenverstand. Drei Referate behandelten Themen aus der Kybernetik. Die 1948 von Norbert Wiener erfundene Forschungsrichtung verband Computertechnik, Bio- und Neurologie und erfreute sich großer Popularität.
Der zweite Tag des Symposiums begann mit Programmiersprachen – die zählten 1958 zur Künstlichen Intelligenz. Das Publikum hörte unter anderem John Backus, den Erfinder von Fortran, und die einzige weibliche Referentin, Grace Hopper. Sie war 1958 nicht Admiralin, sondern erst Kapitän und arbeitete in der Firma Remington Rand. Der Nachmittag widmete sich der Sprachübersetzung. Zu Wort kam auch ein russischer Teilnehmer, Andrei Jerschow. In seinem Nachlass sind schöne Dokumente von seiner Englandreise erhalten.
Am dritten Tag ging es morgens um Spracherkennung und nachmittags um maschinelles Lernen. Der amerikanische Psychologe Frank Rosenblatt beschrieb sein Perceptron, ein frühes neuronales Netz. 1958 lag es erst als theoretisches Modell war, 1960 entstand eine elektronische Version. Am vierten und letzten Tag teilte sich die Tagung in zwei Sektionen auf; die eine war biologisch-kybernetisch ausgerichtet, die andere computertechnisch. Zwei Referenten entwickelten schon Ideen in die Richtung von Suchmaschinen.
Neben den 32 Vorträgen wurde kleinere oder größere Hardware vorgeführt. Aus Ungarn stammte ein kybernetischer Automat auf drei Rädern, die Machina Reproducatrix. Das lateinische Adjektiv hat hier nichts mit Vermehrung zu tun, sondern mehr mit Lernen und Wiederholen. Die versammelten Forscher hatten überdies Gelegenheit, den neuen Computer des Nationalen Physiklabors zu besichtigen. Die „Automatic Computing Engine“, kurz ACE, basierte auf der Pilot ACE, die noch der 1954 verstorbene Alan Turing entworfen hatte.
Die lebenswissenschaftlichen und kybernetischen Vorträge verliehen der Tagung ein buntes Themenspektrum. Umso einheitlicher sah es bei der Geschlechterverteilung aus. Neben Grace Hopper saßen nur vier Frauen im Auditorium. Die meisten Teilnehmer reisten aus den USA und England an, sofern sie nicht schon vor Ort im NPL arbeiteten. Aus deutschen Landen hatte ein einziger den Weg nach Teddington gefunden, Deszö Varjú vom Max-Planck-Institut für Biologie Tübingen. Varjú wurde ein Pionier der Biokybernetik; er starb 2013.
Die Vorträge und Diskussionen des Symposiums sind in zwei Bänden festgehalten, die man hier und hier herunterladen kann – Achtung, dicke Dateien! 1959 organisierte die UNESCO eine große Informatiktagung in Paris, zwei Abteilungen umfassten Vorträge zur Künstlichen Intelligenz. Die erste internationale KI-Konferenz im amerikanischen Stanford fand 1969 statt; auf sie folgten viele weitere. Das erste deutsche Treffen über KI gab es 1975 in Bonn.