Mythos Polybius

Geschrieben am 26.07.2022 von

Im Jahr 2000 erschien im Internet ein Bericht über ein Videospiel namens Polybius. Wie es hieß, lief es 1981 auf Münzautomaten in der amerikanischen Stadt Portland und machte seine Spieler verrückt. Angeblich steckte hinter ihm ein Geheimdienst. Wahrscheinlich ist Polybius eine Fiktion, wir haben uns aber den Mythos näher angeschaut. Er führt auch nach Deutschland.

Polybios, lateinisch Polybius, war ein griechischer Historiker. Er lebte im 2. Jahrhundert vor Christus; einige seiner Werke sind erhalten. Nach ihm ist auch ein Chiffrierverfahren benannt, das die Lettern des Alphabets mit jeweils zwei Buchstaben ausdrückt. Drittens verbindet man Polybios mit einem Videospiel und einer der kuriosesten Episoden der Computergame-Geschichte.

2022 feiern wir den 50. Geburtstag der Branche. Im September 1972 kam in den Vereinigten Staaten die Spielkonsole Odyssey mit analoger Elektronik heraus, ab November wurden die Automaten mit dem digitalen Äquivalent Pong aufgestellt. Es läutete ein neues Zeitalter der Unterhaltungstechnik ein. In den frühen 1980er-Jahren gab es in den USA 10.000 Video-Arkaden. Danach sank ihre Zahl auf ein paar Tausend, das Interesse blieb aber so groß, dass in den Neunzigern ein Online-Verzeichnis für Automatenspiele entstand – coinop.org.

Am 6. Februar 2000 meldete die Seite ein Programm aus der Vergangenheit, aus dem Jahr 1981. Es hieß Polybius und war in einem Vorort von Portland/Oregon verfügbar. Das Spiel wirkte bizarr und abstrakt, es hätte aber schnelle Aktionen und Rätsel angeboten. Coinop brachte einen Screenshot und nannte die Herkunft, ein Unternehmen mit dem seltsamen Namen Sinneslöschen. Man findet auch die Schreibweise „Sinnesloschen“.

Angeblicher Screenshot von Polybius

Die Website berichtete außerdem, dass Polybius-User über Gedächtnisschwund und über Albträume klagten. Manche gaben das Videospielen ganz auf; ein Nutzer entwickelte sich zu einem Anti-Gaming-Agitator. Nach anderen Gerüchten wäre der Urheber von Polybius das Militär oder ein Geheimdienst gewesen. Gelegentlich hätten Männer in schwarzen Mänteln die Arkaden besucht, um Daten über Spielverläufe zu sammeln. Nach einem Monat wurden die Polybius-Automaten wieder abgebaut. Coinop erwähnte noch einen Festwertspeicher mit dem Spiel, nannte aber kaum Details.

2003 stellte das Magazin GamePro Polybius vor: Bitte Seite 45 aufschlagen – dicke Datei! Im März 2006 postete ein gewisser Steven Roach eine Mitteilung ins Coinop-Forum, in der er sich als Urheber des Spiels outete. Demnach schuf er es mit einigen Mitarbeitern in der kommunistischen Tschechoslowakei. Seinen Text kann man hier lesen, er vertiefte ihn später in einem Interview. Im September 2006 trat Polybius in einer Folge der Simpsons auf. 2007 produzierte die texanische Firma Rogue Synapse ein Polybius-Spiel für den PC sowie einen Polybius-Münzautomaten, siehe das Foto unten.

2017 brachte das englische Studio Llamasoft ein zweites Spiel des Namens heraus; das ist ein Durchlauf. Beide Games sind so bizarr, wie es die Coinop-Beschreibung nahelegte; der Zuschauer fürchtet um seine geistige Gesundheit. Unser Gehirn mag keine Lichtblitze, und die Medizin kennt die photosensitive Epilepsie. Ein krasses Beispiel ist aus dem Dezember 1997 überliefert. Damals wurden in Japan Hunderte Kinder, die im Fernsehen eine Animation mit Pokémon-Monstern und Flacker-Effekten betrachteten, von Anfällen erfasst.

Polybius-Automat – man beachte die spärliche Bedienung. (Foto DocAtRS CC BY-SA 3.0 unten beschnitten)

War das die Inspiration für Polybius? Wir wissen es leider nicht. Wir möchten aber einige Verdächtige nennen, die vielleicht den Mythos förderten. Nummer 1 ist Kurt Koller; er betrieb in den 2000er-Jahren die Coinop-Seite und setzte 2003 das Magazin „GamePro“ vom Spiel in Kenntnis. Hier und hier steht mehr über ihn. Der zweite Verdächtige ist natürlich Steven Roach. Zu ihm fand die Journalistin Catherine DeSpira einiges und nicht nur Erfreuliches heraus; ihren Artikel von 2015 empfehlen wir allen Polybius-Fans.

Cat DeSpira entdeckte einen weiteren suspekten Herrn, den Schauspieler und Produzenten Kevin Mannis; über ihn schrieb sie ebenfalls. Beide sehen wir in einer Reportage der BBC zu Polybius vom Januar 2022. Der letzte Verdächtige ist Cyberyogi Christian Oliver Windler aus Buxtehude. Er täuschte ein nicht existentes DDR-Automatenspiel Phoenix vor – bitte etwas scrollen. Zu ihm und seinen kreativen Kollegen erfahren wir mehr im Online-Beitrag von Michael Schwertbachfelde und in einem langen YouTube-Video von Stuart Brown.

Die im Netz vorliegenden Dokumente und Recherchen lassen nur einen Schluss zu: Ein Spiel Polybius gab es 1981 nicht. Zum Schluss bleibt uns der Hinweis auf einen Polybius-Thriller und eine Idee zum Namen Sinneslöschen oder Sinnesloschen. Möglicherweise hat er mit dem Wort „sinnlos“ zu tun; ein fiktives Spiel und eine sinnlose Firma passen gut zusammen. Oder hat jemand einen besseren Vorschlag?

Tags: , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wir stellen diese Frage, um Menschen von Robotern zu unterscheiden.