Tatort Computer

Geschrieben am 21.03.2023 von

Im Januar 2023 legten Polizeibehörden in Europa und Amerika das global operierende Computernetzwerk Hive lahm. Der „Bienenkorb“ hatte zuvor rund 100 Millionen Dollar durch Verschlüsselungsattacken erpresst. Schon in der Ära der Lochkarten und der Magnetbänder gab es Gauner, die Elektronenrechner benutzten. Vor fünfzig Jahren erschienen in Deutschland und den USA die ersten Fachbücher über sie.

Ihre Ursprünge verlieren sich im Dunkel der Technikgeschichte, doch 1959 flogen in New York zwei schwere Fälle auf. Im ersten überwies der Buchhalter einer Wall-Street-Firma – er wurde dann Vizepräsident – am Rechner immer wieder Geld auf sein Konto. Er tarnte die Transfers als Aktienkäufe und häufte 250.000 Dollar an. In der zweiten Firma stellte der DV-Leiter Schecks an fiktive Personen aus und schickte sie an sich selbst. Als er erwischt wurde, hatte er 81.000 Dollar eingesammelt.

Willkommen in der Welt der klassischen Computer-Kriminalität! In den USA entwickelte sie sich in den 1960er-Jahren, als Mainframes und Minicomputer in die Wirtschaft einzogen. Der SPIEGEL schilderte am 9. Juni 1968 den Computer-Betrug; er nannte ihn einen „neuen Typ von Gentleman-Verbrechen“. Er übersah dabei, dass auch die Mafia mitmachte. Das folgt aus einem Referat über Computer crime: Dennie van Tassel, ein Systemadministrator der Universität von Kalifornien, hielt es 1970 auf einer Informatik-Konferenz in Texas. Das „organized crime“ tritt auf Seite 2 unten rechts auf.

Im Jahr 1973 kamen gleich drei längere Publikationen zum Thema heraus. Der Historiker Gerald McKnight veröffentlichte in New York das Buch „Computer Crime“. Eine Rezension nannte es etwas oberflächlich, aber gut lesbar und informativ. Der Mathematiker und Informatiker Donn Parker erstellte mit einem Co-Autor und einer Co-Autorin eine Studie über „Computer Abuse“, zu Deutsch Computermissbrauch. Sie entsprang einem größeren Projekt im kalifornischen Stanford Research Institute. Leider sind beide Titel nicht online.

„Computer-Kriminalität“ war 1973 das erste deutsche Buch zum Thema.

Das gilt auch für „Computer-Kriminalität – Gefahren und Abwehrmaßnahmen“, das Buch liegt uns aber vor. Die ZEIT besprach es im November 1973, nachdem es im Juni erschienen war. Sein Autor Rainer von zur Mühlen wurde am 25. Juli 1943 in Berlin geboren. Er absolvierte eine kaufmännische Ausbildung, danach studierte er Betriebswirtschaft in Bochum und in Köln. Sein Buch entstand am Kölner Lehrstuhl für Wirtschaftsprüfung. Neben dem Studium arbeitete von zur Mühlen freiberuflich für die IBM Deutschland GmbH. So fand er auch Material für seine Kriminalitätsforschung.

Rainer von zur Mühlen unterschied vier Felder, in denen „der Computer Werkzeug oder Ziel deliktischer Handlungen ist“. Das waren die Manipulation von Daten oder Programmen, die missbräuchliche Hardware-Nutzung – von zur Mühlen sprach von Zeitdiebstahl – sowie Wirtschaftsspionage und Sabotage. In seinem Buch behandelte er EDV-Verbrechen in den USA, in Kanada und in der Bundesrepublik. Hierzulande verwendeten in den frühen 1970er-Jahren rund 9.000 Unternehmen einen Computer.

Den Gesamtschaden, den sie bis dahin durch Computer-Kriminalität erlitten hatten, schätzte von zur Mühlen auf mindestens zehn Millionen DM. Die Einzelfälle reichten von 5.000 bis 500.000 DM, die meisten Gaunereien brachten zwischen 100.000 und 300.000 DM ein. Seine Fallstudien leitete von zur Mühlen mit dem sicherlich bekanntesten Delikt ein, dem Rundungstrick. Dabei veränderte der Täter ein Banken-Programm für Zinsgutschriften: Beträge, die zuvor durch Rundungen verloren gingen, wurden nun addiert und auf sein Konto überwiesen.

Der Autor in den frühen 1970er-Jahren (Foto Rainer A. H. v. zur Mühlen)

Den Rundungstrick programmierte Rainer von zur Mühlen für einen IBM-Testrechner. Dabei verwendete er einen Algorithmus, den er mit Hilfe einer Brunsviga-Kurbelrechenmaschine entwickelte und anschließend auf Lochkarten übertrug. Seine Analyse bewog die IBM, ihn für ein Institut zur Zukunftsforschung zu engagieren. Der Trick tauchte 1983 auch in dem Computerfilm System ohne Schatten auf. Darin verkörperte der gefeierte Schauspieler Bruno Ganz einen Informatiker, der auf die schiefe Bahn gerät

Das faszinierendste Kapitel des Buches ist das zur Wirtschaftsspionage. Ein Opfer war unter anderem die Firma Telefunken – Rainer von zur Mühlen verschwieg den Namen in seinem Buch. Sie merkte eines Tages, dass ein Konkurrent in Amerika verblüffende Kenntnisse ihrer Fernseh-Forschungen besaß. Sie basierten auf drei Magnetbändern, die im Telefunken-Rechenzentrum kopiert worden waren; der Kopist blieb unbekannt. Anzumerken ist, dass Telefunken von seiner Bespitzelung ebenfalls auf krummen Wegen erfuhr.

Unter der Überschrift „Programmspionage per Telefon“ analysierte das Kapitel auch Online-Untaten. Von zur Mühlen beklagte, dass das Strafrecht diese Art der Computerkriminalität kaum erfasste. So zogen manche Juristen den Paragraphen 248c des Strafgesetzbuches heran, der das unerlaubte Entziehen von elektrischer Energie betraf. Tatsächlich dauerte es bis 1986, bis das Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität ein Regelwerk gegen Computer-Kriminalität installierte. Wir haben es in unserem Blog skizziert.

Donn Parker, aufgenommen 2012 (Foto Dennis Hamilton CC BY 2.0)

Fünfzig Jahre nach dem Erscheinen ist „Computer-Kriminalität“ noch immer ein informatives True-Crime-Buch, selbst wenn die Fälle in der Regel anonymisiert wurden. Einen Ersatz bietet das Quellenverzeichnis, aus dem man einige Vergehen rekonstruieren kann. Rainer von zur Mühlen startete eine erfolgreiche Karriere als Berater, Autor und Verleger; seine Firma beging 2022 den 50. Geburtstag. Ein zweiter großer Name im Bereich der EDV-Delikte ist Ulrich Sieber. Er verfasste 1977 als Rechtsanwalt das Buch „Computerkriminalität und Strafrecht“ und brachte es bis zum Direktor eines Max-Planck-Instituts.

Ein Muss für Freunde des Computerverbrechens ist „Crime by Computer“ des erwähnten Donn Parker. Es erschien 1976; man kann es nach Anmeldung im Internet Archive lesen. Auch Parker verschwieg gelegentlich Details, doch er schilderte seine Fälle spannend und unterhaltsam. Im Buch treffen wir Hacker und Trojaner – wir meinen die Schadsoftware – sowie Keith Taft. Er zählte zu den Pionieren der Wearable-Computer; in den frühen 1970er-Jahren setzte er sein System beim Kartenspiel Blackjack ein. Reich wurde er aber nicht.

Unter dem Titel Das neue Verbrechen: Computer-Kriminalität nahm der SPIEGEL unser Thema 1979 wieder auf. Der Redakteur griff auf das Buch von Ulrich Sieber zurück; den SPIEGEL-Artikel von 1968 vergaß er. Die 1980er-Jahre waren die goldene Ära des Hackens und brachten uns Computerviren und Computerwürmer. Danach kamen das World Wide Web und neue Cyber-Untaten, man denke an Phishing oder Ransomware. Die Wikipedia-Gruppe Computer- und Internetkriminalität weist fünf Unterkategorien und 54 Unterpunkte auf. Die Zeit der Gentleman-Verbrecher ist jedenfalls vorbei.

Wir danken Rainer von zur Mühlen herzlich für biografische Hinweise und das Foto.

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