Volkszählung 1939
Geschrieben am 19.05.2017 von HNF
Im Mai 1939 fand in Deutschland und dem im Vorjahr „angeschlossenen“ Österreich eine Volkzählung statt. Jüdische Bürger und Familien mussten zusätzliche Angaben machen. Die gesammelten Informationen wurden vom Reichsamt für Statistik mit Lochkarten weiter verarbeitet. Historiker diskutieren den Zensus bis heute. Insbesondere stellt sich die Frage, ob seine Daten die Verfolgung der Juden erleichtert haben.
Die Volkszählung steht am Anfang der modernen Datenverarbeitung. Für den amerikanischen Zensus von 1890 entwickelte Herman Hollerith seine Lochkartentechnik. Sie kam später in aller Welt zum Einsatz und führte zur Firma IBM. 1910 wurde in Berlin die Deutsche Hollerith-Maschinen Gesellschaft (DEHOMAG) gegründet. Sie importierte, fertigte und vermietete Lochkartengeräte für Kunden in Wirtschaft und Verwaltung. 1924 wurde sie zur Tochtergesellschaft der IBM.
Nach Gründung des Deutschen Reichs 1871 waren Volkszählungen primär eine Aufgabe der einzelnen Länder und Fürstentümer. Das Kaiserliche Statistische Amt in Berlin koordinierte den Datenfluss und veröffentlichte die Ergebnisse. Nach dem 1. Weltkrieg trat an seine Stelle das Statistische Reichsamt. Ein wichtiger Schritt in Richtung Zentralisierung geschah 1934, als das Preußische Landesamt für Statistik im Reichsamt aufging – Preußen war das größte Land im Reich. Beide Ämter verwendeten die Lochkartenmaschinen der DEHOMAG.
Schon am 16. Juni 1933 fand die erste Volkszählung unter nationalsozialistischer Herrschaft statt. Die Zähler wollten unter anderem die Religion wissen und unterschieden Protestanten, Katholiken und Juden. Die Frage war relativ unverfänglich; sie wurde auch schon beim Zensus von 1925 gestellt, als noch demokratische Verhältnisse bestanden. Für 1933 ergab sich, dass das Deutsche Reich knapp 500.000 Bürger jüdischen Glaubens besaß. Das waren nur 0,8 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Im Anschluss an die Zählung warb die DEHOMAG mit einem bis heute bekannten Plakat. Ein riesiges Auge gewinnt „Übersicht mit Hollerith-Lochkarten“. Die Firma wirkte im Auftrag des Statistischen Reichsamts bei der Auswertung der Volkszählungsbögen mit. Fleißige Locherinnen stanzten alle Angaben in die Pappkarten. Diese codierten weder den Namen noch die Adresse einer Person, so weit war die DEHOMAG-Technik einfach noch nicht. Die ausgefüllten Originalbögen wurden nach einigen Jahren vernichtet.
Der folgende Zensus geschah am 17. Mai 1939. Inzwischen hatte sich das Reichsgebiet gewandelt: 1935 kam das zuvor vom Völkerbund verwaltete Saargebiet an das Deutsche Reich zurück, 1938 wurden Österreich und das Sudetenland annektiert. Die Vordrucke für die Volkszählung entsprachen denen von 1933, es gab jedoch eine Ergänzungskarte. Dort trug der oder die Befragte Geburtsort, Geburtsdatum und die Adresse ein und außerdem, wie viele Großeltern „Volljuden“ gewesen waren. Der Volkszähler nahm die Karte dann in einem verschlossenen Umschlag entgegen.
Am Stichtag schwärmten an die 750.000 Zähler aus und besuchten landauf landab die Bürger. Volkszählungsbögen und Ergänzungskarten wurden anschließend zentral im Berliner Amt bearbeitet. Dazu standen 80 Millionen Lochkarten zur Verfügung; der Maschinenpark umfasste 400 elektrische Locher, 300 Kartenprüfer, 70 Sortier- und 50 Tabelliermaschinen sowie 25 Kartendoppler. Pro Tag wurden 450.000 Karten gelocht; die Locherinnen schafften später sogar eine Million Karten täglich.
Als erstes Ergebnis lag im März 1940 eine vorläufige Auswertung der Ergänzungskarten vor. Demnach lebten in Deutschland nur noch 233.973 Juden, was 0,34 Prozent der Bevölkerung entsprach. Österreich ist hier nicht mitgezählt. Die restlichen Resultate erschienen nach und nach bis 1944. Der nächste größere Zensus fand 1950 in Ost und West getrennt statt. Die DDR-Bevölkerung wurde am 31. August 1950 gezählt, die Bundesbürger am 13. September.
Als in den 1980er-Jahren eine heiße Diskussion um Datenschutz und Volkszählungen ausbrach, geriet der Zensus von 1939 wieder ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Historiker stellten die These auf, dass die damals gesammelten Daten die Deportation der deutschen Juden ermöglicht oder zumindest erleichtert hätten. Eine wichtige Rolle hätte dabei die Lochkartentechnik der DEHOMAG gespielt. Das 1993 eröffnete Holocaust-Museum in Washington stellte dann auch einen Tabulator der Firma aus.
Was ist von der These zu halten? Hängen Datenverarbeitung und Judenverfolgung wirkich zusammen? Sicher ist, dass die DEHOMAG-Lochkarten keine Namen aufnahmen, sondern nur den Zählbezirk und die Positionen in den Listen, mit denen die Volkszähler von Tür zu Tür gingen. Aussagekräftiger waren die von den jüdischen Bürgern ausgefüllten und mit Name und Adresse versehenen Ergänzungskarten. Sie lagen nach Abschluss der Auswertung im Statistischen Reichsamt und standen anderen Behörden zur Verfügung.
Die Ergänzungskarten dienten dann zur Überprüfung der Melderegister und der Volkskartei. Diese war von den Einwohnermeldeämtern kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs angelegt worden; sie listete die Bürger nach Jahrgängen auf. Der Abgleich der Daten geschah in der zweiten Jahreshälfte 1941. Danach wanderten die Karten ins Reichssippenamt, das sich Familienforschung und „Ariernachweisen“ widmete. Was hier mit ihnen passierte, ist unbekannt. Sie überlebten den Krieg und wurden später vom Bundesarchiv digitalisiert.
Allem Anschein nach wurden die Unterlagen der Volkszählung 1939 nicht für die Planung oder Durchführung der Judenvernichtung benutzt. Die SS konnte auf andere Karteien zurückgreifen; im Blog erwähnten wir schon die Kennkarte, die sich jüdische Bürger ab 1938 zulegen mussten. Auch die jüdischen Gemeinden und die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland mussten Daten sammeln und der SS übermitteln. In diesem Zusammenhang verweisen wir auf die Forschungen von Jutta Wietog und ihr Buch von 2001.
Seitdem sind viele zusätzliche Dokumente im Netz erschienen, zum Beispiel die Inhalte der Ergänzungskarten sowie Statistiken und Deportationslisten. Ein Foto zur Volkszählung von 1939 bietet ein kommerzielles Bildarchiv an. Wer mehr über klassische Lochkartentechnik erfahren will, sollte aber am Sonntag ins HNF kommen. Der 21. Mai ist der Internationale Museumstag; bei freiem Eintritt gibt es zwei Führungen durch die Hollerith-Abteilung unter dem Motto Wir lochen Sie ein. Um Anmeldung wird gebeten.