Wenn Computer zu Betrügern werden
Geschrieben am 20.07.2021 von HNF
Im April endete nach 25 Jahren der wohl größte europäische IT-Skandal. Ein Gericht in London hob frühere Urteile gegen 39 Betreiber von Postagenturen auf. Sie zählten zu den Opfern des von der englischen Post benutzten Computersystems Horizon. Die ab 1996 entwickelte Software wies gravierende Mängel auf, die aber lange den Menschen zur Last gelegt wurden.
Unsere Geschichte beginnt in den 1990er-Jahren. Damals gab es in England noch die Firma International Computers Limited, kurz ICL. Sie gehörte mehrheitlich dem japanischen Fujitsu-Konzern, konnte aber eigenständig agieren. ICL hatte eine Tochtergesellschaft ICL Pathway; sie erhielt im Mai 1996 den Auftrag, die Geschäfte der britischen Postfilialen zu digitalisieren. Sie sollte zudem ein System entwickeln, um mit Magnetstreifenkarten die Rente abzuheben.
Daraus wurde nichts; im Mai 1999 stoppte die Regierung das Magnetkarten-Projekt. Was blieb, war die Umstellung der Filialen – hier seien die privaten Postagenturen mitgezählt – auf den Computerbetrieb. ICL erhielt einen neuen Vertrag über eine Milliarde Pfund; das zugehörige System hieß Horizon. Schon 1998 hatte Fujitsu sämtliche Firmenanteile von ICL übernommen; im April 2002 verschwand der alte Name. Das Computersystem für die Post wurde zu Fujitsu Horizon, es stammte aber nicht aus dem Fernen Osten, sondern aus dem Vereinigten Königreich.
Die Software umfasste mehr als dreieinhalb Millionen Programmzeilen und bildete das größte zivile Computersystem Europas. Wie Fujitsu 2002 schrieb, versorgte Horizon 17.500 Poststellen und 40.000 Schalter. Jährlich schob es 900 Milliarden Pfund in 2,4 Milliarden Transaktionen hin und her. In diesem Artikel von 2003 ist eins der Touchscreen-Terminals abgebildet. Aber schon früh traten in Horizon-Anlagen rätselhafte Störungen auf. In einigen Postfilialen verschwanden aus Abrechnungen vier- oder gar fünfstellige Geldbeträge.
Einer der Filialleiter war Alan Bates, der ab 1998 eine Postagentur in Wales führte. Anfang 2001 bemerkte er in der elektronischen Buchhaltung einen Verlust von 1.000 Pfund. Bates analysierte alle Geschäftsvorgänge, fand aber keine Erklärung. Die Postverwaltung als Betreiber des Computersystems leistete keinerlei Hilfe. 2003 kündigte sie den Vertrag und schloss die Poststelle; 2006 verkaufte Bates den Laden drumherum. Im selben Jahr startete er die Internetseite postofficevictims und machte seine Software-Erfahrungen publik.
Die Fälle häuften sich; im Mai 2009 brachte die Zeitung Computer Weekly einen längeren Artikel. Er trug den Titel „Bankrotte, Prozesse und zerstörte Existenzen“ und erzählte von sieben Agenturen, denen Horizon Verluste beibrachte. Einer der Betroffenen war Alan Bates. Die Postverwaltung wies die Schuld stets den Inhabern und Inhaberinnen der Zweigstelle zu und zog außerdem vor Gericht; ein „Subpostmaster“ kam für zwölf Wochen ins Gefängnis. Im November 2010 musste eine „Subpostmistress“ fünfzehn Monate in Haft.
Bereits 2009 gründeten Horizon-Opfer die Justice for Subpostmasters Alliance. Im Jahr 2011 berichtete die BBC, 2012 und 2013 erschienen Artikel auf ihrer Homepage. Mittlerweile hatten sich über hundert Postagenturhalter zusammengefunden. Die Post gab endlich Fehler im Computersystem zu. Sie leitete auch eine Mediation ein, die aber im Sande verlief. Alan Bates strengte nun ein Gerichtsverfahren vor dem Londoner High Court an. 2019 obsiegten er und 554 Mitstreiter gleich zweimal über die Postverwaltung, die dann 58 Millionen Pfund an Entschädigungen zahlte.
Am 23. April 2021 sprach der Court of Appeal, das höchste englische Berufungsgericht. Es hob die Urteile gegen 39 Agenturbetreiber und -betreiberinnen auf, die die Post wegen Falschbuchungen verklagt hatte. Sie machen allerdings nur einen kleinen Teil der zu Unrecht Beschuldigten aus. Nach Angaben der erwähnten Allianz erfolgten bis 2014 neunhundert Verurteilungen. Zugleich wurde im April bekannt, dass die englische Postverwaltung die umstrittene Software ausmustern will. An ihre Stelle soll ein System auf Cloud-Basis treten.
Offen bleibt die Frage, welche Programmierfehler denn zu den Verlusten in den Postfilialen führten. Wer auf die Suche gehen möchte, sollte dieses technische Papier des High Court studieren. Online sind auch das erste und das zweite Urteil des Gerichts sowie die Artikel zum Thema vom „Computer Weekly“. Eine gute Einführung liefert ein Beitrag der Zeitschrift Private Eye aus dem Jahr 2019, und hier ist noch eine Website. Unser Eingangsbild zeigt eine Postfiliale im Norden von London (Foto Sludge G CC BY-SA 2.0 seitlich beschnitten).