Die programmierte Rakete

Geschrieben am 03.10.2017 von

Im Juni 1942 begannen in Peenemünde die Starts der ersten Großrakete der Welt, der A4. Am 3. Oktober 1942 glückte ein Flug über 190 Kilometer; die Rakete stieg dabei auf eine Höhe von 85 Kilometern. Zur Steuerung besaß die A4 ein programmiertes Schaltwerk, einen Analogrechner zum Drosseln des Triebwerks und einen zweiten Rechner für Kurskorrekturen.

Während des 2. Weltkriegs wurden drei Techniken entwickelt, die die Welt tiefgreifend veränderten: die Atombombe, der Elektronenrechner und die Großrakete. Zwar ist die Rakete an sich viel älter, doch startete erst im Krieg ein Fluggerät, das 13 Tonnen wog und einige Minuten in den Kosmos vordrang. Das war das Aggregat 4 der deutschen Wehrmacht, kurz A4. Der erste Flug geschah am 3. Oktober 1942 über der deutschen Ostseeküste.

Die A4 war das Resultat eines schon länger laufenden Entwicklungsprojekts der deutschen Wehrmacht. Seit den frühen 1930er-Jahren befasste sich die Forschungsabteilung des Heereswaffenamts mit Raketen. Sie testete auch schon Raketentriebwerke mit flüssigen Treibstoffen in Kummersdorf bei Berlin. Ende 1932 wurde der 20-jährige Ingenieurstudent Wernher von Braun eingestellt. Sein Vorgesetzter war Hauptmann, später Generalmajor Walter Dornberger, ein ausgebildeter Diplomingenieur.

Ab 1936 entstand auf der Ostseeinsel Usedom die Heeresversuchsanstalt Peenemünde. 1938 kam eine Versuchsstelle der Luftwaffe hinzu. Die Anstalten belegten eine Fläche von 25 Quadratkilometern und beschäftigten 12.000 Menschen. Während des 2. Weltkriegs bildeten sie das größte militärische Forschungszentrum Europas. Es verfügte über einen Flugplatz und eine elektrifizierte Bahnstrecke. Für die Stromversorgung von Bahn und Werkstätten wurde ein eigenes Kraftwerk gebaut. Es dient heute als Museum.

Wernher von Braun im März 1942; ganz links steht Walter Dornberger (Bundesarchiv, Bild 146-1978-Anh.024-03 / CC BY-SA 3.0)

Kommandant der Heeresversuchsanstalt war Walter Dornberger, der technische Direktor hieß Wernher von Braun. Nach einigen Vorläufermodellen flog ab 1938 die Rakete Aggregat 5. Sie war sechs Meter hoch, wog eine Tonne und stieg bis auf acht Kilometer. Das Aggregat 5 führte zum Aggregat 4, kurz A4. Die neue Rakete maß 14 Meter und hatte ein Startgewicht von zwölf Tonnen. Davon entfielen 750 Kilo auf den mitgeführten Sprengstoff. Angetrieben wurde sie mit Alkohol und flüssigem Sauerstoff. Sie flog fünfmal schneller als der Schall.

Die erste fertige A4-Rakete explodierte im März 1942 bei einem Triebwerkstest. Am 13. Juni hob das zweite Modell auf dem Prüfstand ab; in fünf Kilometern Höhe trat ein Schaden in der Treibstoffpumpe auf, und die Rakete stürzte ab. Am 16. August erfolgte der nächste Start. Die A4 blieb gut drei Minuten in der Luft und erreichte Überschallgeschwindigkeit. Dann brach ihre Spitze ab, was den Flug vorzeitig beendete. Am 3. Oktober 1942 stand das vierte Versuchsmodell bereit und stieg um 15:58 Uhr in den Himmel über Peenemünde.

Diesmal klappte alles. Das Triebwerk brannte 58 Sekunden lang und brachte die Rakete auf eine Geschwindigkeit von 4.824 Stundenkilometern. Im hohen Bogen flog sie die Küste entlang. Nach knapp fünf Minuten landete sie 190 Kilometer östlich von Usedom im Meer. Auf ihrer Parabel erreichte die A4 eine Gipfelhöhe von 84,5 Kilometern – wissenschaftlich beginnt der Weltraum bei 100 Kilometern. Diese Grenze durchbrach zuerst eine A4, die am 20. Juni 1944 zu einem senkrechten Flug startete. Sie kam auf 174,6 Kilometer.

Blick in die Steuersektion der A-4 (Bundesarchiv, RH8II Bild-B1927-44 / CC-BY-SA 3.0)

Die A4 war eine Kriegswaffe und eine Weiterentwicklung der Artillerie. Von einem beliebigen Startplatz aus sollte sie eine Sprengladung zu einem Ziel im Feindesland transportieren. Auf Kurs gehalten wurde die Rakete durch eine Lenkung über Funksignale, solange das Triebwerk lief; darüber hinaus besaß sie eigene Navigationssysteme. Das erste war das programmierte Zeitschaltwerk. Es setzte nach dem Start eine Folge von Aktionen der Steuerung in Gang, vor allem die Neigung aus der Senkrechten während des Aufstiegs.

Das zweite System schaltete beim Erreichen der optimalen Geschwindigkeit das Triebwerk ab. Sie wurde mit einem Beschleunigungssensors ermittelt, der auf einem Kreisel basierte, und bei einem bestimmten Output das Stoppsignal schickte. Mathematisch führte der Sensor eine Integration durch, es handelte sich also schon um einen Analogrechner. Die Ingenieure in Peenemünde untersuchten noch zwei andere Apparaturen zur Messung der Geschwindigkeit und eine mit doppelter Integration, die die geflogene Strecke bestimmte.

Zur Korrektur kleiner Kursschwankungen führte die A4 einen elektrischen Analogrechner mit. Das Mischgerät enthielt die Inputs vom Kreiselsystem der Rakete; die Outputs gingen an die Strahlruder, die am Ausgang des Triebwerks saßen. Erfinder des Mischgeräts war der in Thüringen geborene Ingenieur Helmut Hölzer. Er entwickelte außerdem den ersten großen Analogrechner mit elektrischen Elementen. Nach dem Krieg zählte Hölzer zu den deutschen Raketenspezialisten, die für die NASA arbeiteten, und leitete ein wichtiges Rechenzentrum.

Zeitschaltwerk der A4   (Foto Stefan Kühn, Deutsche Wikipedia CC BY-SA 3.0)

Die Forschungs- und Entwicklungstätigkeit für die A4 fand nicht nur in Peenemünde statt. Firmen und Hochschulen in ganz Deutschland leisteten Beiträge, zum Beispiel das Institut für Praktische Mathematik der Technischen Hochschule Darmstadt. Dort saßen rund 60 junge Frauen und führten umfangreiche Rechenarbeiten aus. Eine kleine Zahl war auch in Peenemünde tätig; sie wirkten bei der Datenaufnahme am Windkanal mit. In der vor zwei Jahren eröffneten Ausstellung Am Anfang war Ada wies das HNF auf die Rechnerinnen hin.

Nach zahlreichen Versuchsstarts begann 1943 der Serienbau und 1944 der Kriegseinsatz der A4. Von September 1944 bis März 1945 wurden von mobilen Transportvorrichtungen etwa 3.200 Raketen abgefeuert; Ziele waren vor allem London und das belgische Antwerpen. Die Propaganda machte aus der A4 die „Vergeltungswaffe“ V2. Die V1 war der unbemannte Bombenträger Fieseler Fi 103, ein Vorläufer der heutigen Cruise Missiles. Den Ausgang des Krieges haben beide nicht verändert.

Die A4 war eine der größten Leistungen deutscher Technik und der erste Schritt auf dem Weg des Menschen ins Weltall. Zugleich zeigt sie die schwarze Seite der Vernunft, und nicht nur deshalb, weil die Rakete als Kriegsgerät entstand. Schon in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde und dem zugehörigen Versuchsserienwerk arbeiteten KZ-Häftlinge. Ab 1943 starben Tausende von ihnen bei der unterirdischen Raketenfertigung im Harz. 75 Jahre nach dem Erstflug der A4 sollten wir auch ihrer gedenken.

Unser Eingangsbild zeigt einen A4-Start 1943 (Bundesarchiv, Bild 146-1978-Anh.026-01 / CC-BY-SA 3.0). Zum Mischgerät von Helmut Hölzer und seinem Analogrechner empfehlen wir diesen Vortrag von Bernd Ullmann sowie das Referat von Hölzer selbst. Ein Nachbau des Rechners befindet sich im Deutschen Technikmuseum Berlin.

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Ein Kommentar auf “Die programmierte Rakete”

  1. In einer deutschen Privatsammlung befindet sich nicht nur das weltweit einzige Original-Mischgerät sondern auch mehrere Kreiselplattformen der A4, auf denen die Beschleunigungssensoren und Integratoren für die drei Raumachsen installiert waren.

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