Karl Steinbuch: Von der Kybernetik zur Politik
Geschrieben am 15.06.2017 von HNF
Vor 100 Jahren, am 15. Juni 1917, wurde in Stuttgart Karl Steinbuch geboren. In den Fünfzigern entwickelte er den ersten deutschen Transistorrechner, das Informatik-System Quelle, und ein frühes neuronales Netz, die Lernmatrix. Ab 1958 lehrte Steinbuch in Karlsruhe. Er betrieb auch Zukunftsforschung und schrieb 1968 den Besteller „Falsch programmiert“. Später wurde er ein radikaler Konservativer.
„Ein garstig‘ Lied! Pfui! Ein politisch‘ Lied“, so schrieb Johann Wolfgang von Goethe, und die Informatiker folgten in der Regel seinem Rat. So manche Ministerin saß einst am Computer, wir denken an Renate Schmidt oder Anke Brunn, doch die männlichen Kollegen hielten sich bei der Politik vornehm zurück. Konrad Zuse etwa vertraute seine politischen Ansichten nur den unveröffentlichten Memoiren Die Uhr tickt an.
Eine Ausnahme war Karl Steinbuch. Am 15. Juni 1917, vor 100 Jahren kam er im Stuttgarter Bezirk Cannstatt zur Welt – damals noch ohne das Bad. Der Vater war Bäcker. Steinbuch absolvierte die Oberrealschule; von 1938 bis 1944 studierte er mit kriegsbedingten Unterbrechungen Physik in Stuttgart. Danach arbeitete er bei der AEG in Berlin und in der Torpedoversuchsanstalt Eckernförde. Nach Kriegsende war er Mitinhaber eines Radiogeschäfts und freiberuflicher Physiker.
1948 trat Steinbuch in die Mix & Genest AG ein, Hersteller von Kommunikationstechnik. Lange in Berlin ansässig, war die Firma kurz zuvor nach Stuttgart-Zuffenhausen umgezogen. In den 1950er-Jahren wechselte er ins neu gegründete Informatikwerk Stuttgart. Es gehörte wie Mix & Genest zur Standard-Elektrik-Gruppe, die 1958 zur Standard Elektrik Lorenz AG wurde. Steinbuch erhielt den Posten des Entwicklungsleiters, seine Hauptaufgabe war das Informatik-System Quelle.
Dieses automatisierte ab Ende 1957 die Bestellvorgänge des bekannten Versandhauses. Den Kern bildete ein Rechner mit drei Trommelspeichern und elf Schränken für die Germanium-Transistoren. Damit war das Informatik-System der erste deutsche Transistorcomputer und anderthalb Jahre früher fertig als der gleichfalls halbleiterbestückte Siemens-Rechner 2002. Es erledigte sechzehn Jahre seinen Dienst im Quelle-Versandzentrum in Nürnberg. Der begeisterte SPIEGEL-Artikel vom März 1958 erwähnt bereits einen Dr. Steinbuch.
Im gleichen Jahr wurde Karl Steinbuch Professor für Nachrichtenverarbeitung und Nachrichtenübertragung an der TH Karlsruhe. Hier entwickelte er die Lernmatrix, ein elektronisches System, das sich Buchstaben und andere Muster merkte. Es entstand im Umfeld der Kybernetik. Die neue Wissenschaft erforschte die Informationsverarbeitung in Mensch und Maschine, ein wichtiges Feld waren Lernvorgänge. Dabei griffen die Kybernetiker auf die Theorie des bedingten Reflexes zurück, die der russische Physiologe Iwan Pawlow formuliert und in Versuchen mit Hunden getestet hatte.
Die erste Vorstellung der Lernmatrix erfolgte im September 1960 bei der Anmeldung des Patents, den ersten Aufsatz veröffentlichte Karl Steinbuch im Januar 1961 in der Zeitschrift Kybernetik. Am schnellsten verstehen wir das System anhand einer Anwendung, dem Erkennen von 4 x 5 Pixeln umfassenden Schwarzweiß-Mustern. Solche Muster lassen sich zeilenweise scannen. Wenn wir einem schwarzen Pixel die 1 und einem weißen die 0 zuweisen, dann erhalten wir eine 1-0-Folge. Ein ganz links stehender Buchstabe I führt zum Beispiel zu 1000 1000 1000 1000 1000.
Solche Folgen kann sich die Lernmatrix durch wiederholte Scan-Vorgänge einprägen und mit analoger Elektronik abspeichern. Auf die Lern- folgt die Kann-Phase: nun gibt das System bei einmaligem Scannen das Muster aus. Bei einer Hardware-Realisierung in den 1960er-Jahren geschah das durch Ansage des erlernten Buchstabens. Mehrere Lernmatrizen lassen sich hintereinandersetzen oder schichten, wie Steinbuch sagte. Auf diese Weise erhalten wir eine Schaltung, die man heute als neuronales Netz bezeichnet.
Die 1960er-Jahre hindurch befassten sich Karl Steinbuch und seine Assistenten und Studenten mit Mustererkennung, teilweise auch im Auftrag der Bundeswehr. Daneben begann er eine rege publizistische Tätigkeit. 1961 erschien das Buch „Automat und Mensch“, sein Bekenntnis zur kybernetischen Weltsicht. Ein Zitat: „Was wir an geistigen Funktionen beobachten, ist Aufnahme, Verarbeitung, Speicherung und Abgabe von Informationen.“ Das Werk wurde bis in die 1970er-Jahre hinein upgedatet und neu aufgelegt.
1964 schrieb Steinbuch einen Aufsatz „Können und sollen menschliche Funktionen bei der Raumfahrt von Automaten übernommen werden?“ Er enthielt eine Grafik über den Anstieg der Rechengeschwindigkeit von Computern. Eine zweite Grafik zeigte den Anstieg der Speicherkapazitäten. Sie bewiesen, dass die Größen im Laufe der Jahre exponentiell anwuchsen. Steinbuch vermutete, dass es in Zukunft so weitergeht. In gewissem Sinne nahm er das Mooresche Gesetz vorweg, das erst 1965 in den USA veröffentlicht wurde.
1966 kam das Sachbuch „Die informierte Gesellschaft“ heraus. Seine Themen waren die Geschichte und die Zukunft der Nachrichtentechnik und des Computers. Hier entwarf Karl Steinbuch das Konzept der Informationsgesellschaft – den Begriff gab es vorher noch nicht – und beeinflusste vielleicht den späteren Bundeskanzler Helmut Kohl. Er skizzierte auch „Informationsbanken“, die an heutige Internet-Suchmaschinen erinnern, und Datennetze für den landesweiten Unterricht durch Lehrcomputer.
1968 lag sein nächstes Werk vor, dessen Titel sprichwörtlich wurde: Falsch programmiert. Es prangerte die Hinterweltler in Politik und Gesellschaft an und forderte den engagierten, aufgeklärten und kybernetisch denkenden Bürger. Das Buch verkaufte sich blendend und machte Steinbuch zum bekanntesten deutschen IT-Experten. Er verhehlte nicht seine Sympathie für die SPD und trat auf einem Parteitag auf. Nach dem SPD/FDP-Erfolg bei der Bundestagswahl 1969 wäre er beinahe Minister für Bildung und Wissenschaft geworden.
Gegen Ende des Jahres 1969 verließ ihn aber das Glück. Steinbuch interessierte sich sehr für Zukunftsforschung und richtete eine große Konferenz in München aus. Sie war von Pannen geprägt und erntete ein miserables Presseecho. Nicht viel besser fielen im nächsten Jahr die Kritiken seines Buchs Programm 2000 aus. Steinbuch überwarf sich mit dem Futurologen Robert Jungk und ebenso mit der Chefredakteurin der ZEIT, Marion Gräfin Dönhoff.
1971 wirkte er bei der Fernsehserie „Mensch – Technik – Zukunft“ mit und erstellte das lesenswerte Begleitbuch. 1972 kam es dann zum Bruch mit der SPD. Unser Eingangsbild zeigt Karl Steinbuch beim CSU-Parteitag 1975 (Foto Bundesarchiv, B 145 Bild-F046476-0002 / Storz / CC-BY-SA 3.0). Er wähnte die Bundesrepublik durch linksradikale Kräfte unterwandert und breitete seine Ansichten in immer neuen und polemischen Büchern aus. Auch nach dem Ende der SPD/FDP-Regierung 1982 mäßigte er sich kaum.
Seine akademische Tätigkeit vernachlässigte er aber nicht; 1977 schrieb er ein Fachbuch über Kommunikationstechnik. 1980 wurde Karl Steinbuch emeritiert. 1982 leitete er die Forschungskommission Baden-Württemberg, die Grundsätze für die Entwicklung des Bundeslandes im High-Tech-Zeitalter erarbeitete. An den Debatten der 1980er-Jahre über Datenschutz einerseits und den Aufstieg der Mikrocomputer andererseits nahm er nicht teil. Was er vom Internet und seinen Auswüchsen hielt, ist unbekannt.
Karl Steinbuch starb am 4.Juni 2005 in seinem Haus in Ettlingen. 2008 erhielt das gemeinsame Rechenzentrum der Universität und des Forschungszentrums Karlsruhe den Namen Steinbuch Centre for Computing, abgekürzt SCC. Hier kann man Karl Steinbuch noch einmal sehen – bitte zu Minute 20:50 springen – und hier hören. Für die zweite Jahreshälfte 2017 plant das Karlsruher Institut für Technik der Informationsverarbeitung ITIV eine Veranstaltung zu seiner Erinnerung.
Wir bedanken uns herzlich beim ITIV, Professor Jürgen Becker und seinen Kollegen für die drei historischen Fotos und die Erlaubnis, sie im Blog verwenden zu dürfen.
Sinnlos herumzuraten ist für Automaten ebenso wertlos wie für Menschen“ (Karl Steinbuch, 1959)
In den SEL-Hausnachrichten von 1957 definierte Steinbuch lt. Detlef Borchers Informatik als „automatische Informationsverwaltung in der Fabrik der Zukunft“. Entsprechend wurde der von Steinbuch und Robert Piloty entwickelte Quelle-Computer in Stuttgart in einem „Informatikwerk“ produziert.