Kopieren mit Strom
Geschrieben am 25.01.2019 von HNF
Die Entwicklung des Trockenkopierens, auch Xerokopie genannt, zog sich über mehr als zwei Jahrzehnte hin. Haupterfinder war der Amerikaner Chester Carlson; er baute auf Vorarbeiten des ungarischen Physikers Pál Selényi auf. Carlson meldete im Oktober 1937 das erste Patent an. Am 16. September 1959 brachte die Firma Haloid einen wirklich brauchbaren Kopierer auf den Markt.
Georg Christoph Lichtenberg kennen wir als Autor und Aphoristiker; im Hauptberuf war er Physikprofessor in Göttingen. 1777 experimentierte er mit elektrisch geladenen Platten. Dabei entdeckte er, dass sich Staubteilchen auf ihnen niederließen und Muster bildeten. Letztere konnte er mit klebrigem Papier aufnehmen, sogar mehrmals, und für die Nachwelt festhalten.
Die Lichtenbergschen Figuren stehen am Beginn des Wegs, der zur heutigen Trockenkopie führte. Zunächst mühten sich Schreiber und Sekretärinnen mit anderen Methoden ab. Der Dampfmaschinenpionier James Watt ersann im 18. Jahrhundert die Kopierpresse, später kamen Blaupausen und Kohlepapiere sowie die Fotokopie und verwandte Systeme. Weitere Geräte dienten dem Vervielfältigen von A4-Seiten. Ältere Leser erinnern sich vielleicht an die Matrizendrucker, die studentische Flugblätter oder oppositionelle Aufrufe produzierten.
Schritte in die richtige Richtung unternahm ab den späten 1920er-Jahren der ungarische Physiker Pál Selényi. Im Labor der Lampenfirma Tungsram entwickelte er die Elektrographie. Grundlage ist eine Bildvorlage oder eine Textseite. Sie wird per Fotozelle gescannt, synchron dazu wird eine Gummifläche zeilenweise aufgeladen. Die Helligkeitsdifferenzen der Vorlage führen zu unterschiedlich starken Ladungen. Auf das Gummi streut man nun ein schwarzes Pulver, das elektrostatisch haftet. Je nach Stärke der Aufladung entstehen dunkle oder weniger dunkle Punkte.
Das Pulver wird durch Erhitzen fixiert, fertig ist die Kopie. 1935 beschrieb Selényi sein Verfahren in der „Elektrotechnischen Zeitschrift“ in deutscher Sprache. Im gleichen Jahr meldete er Patente in England und den USA an. Das britische Patent mit Nummer 449.824 galt ab Juli 1936; das US-Patentamt genehmigte die Nummer 2.143.214 im Januar 1939. Die amerikanische Fachzeitschrift „Electronics“ berichtete im April 1936 über Selényis Erfindung und brachte eine Fotografie. Wer das Heft herunterlädt, findet sie auf PDF-Seite 46.
Der ungarische Physiker schuf den ersten Trockenkopierer der Welt; praktisch einsetzbar war er leider nicht. Er inspirierte aber einen amerikanischen Erfinder. Chester Carlson wurde 1906 in Seattle geboren und wuchs in Kalifornien auf. Die Familie war bitterarm, doch 1930 schloss Carlson sein Physikstudium ab. Er arbeitete dann bei den Bell-Laboratorien in New York, unter anderem in der Patentabteilung. 1933 wurde er entlassen, doch fand er eine neue Beschäftigung. 1934 war er als Patentexperte beim Batteriehersteller Mallory tätig.
Zu jener Zeit grübelte Carlson schon über neue Kopierverfahren nach. Dabei stieß er auf die Ideen von Pál Selényi. Wir wissen nicht, ob er nur die Zeitschriftenartikel oder auch seine Patentschriften las, auf jeden Fall wandelte er das Konzept des Ungarn ab. Er übernahm das Ladungsbild, erzeugte es aber mit einer anderen Methode. Aus der Physik kannte er die Fotoleitung: die Erhöhung der elektrischen Leitfähigkeit eines Stoffs, der mit Licht bestrahlt wird. Ein Fotoleiter ist etwa Schwefel, und Carlson begann zu experimentieren.
Am 18. Oktober 1937 meldete er ein vorläufiges Patent für eine Kopiervorrichtung an. 1938 mietete er im New Yorker Stadtteil Astoria ein kleines Zimmer für Versuche; außerdem stellte er den Ingenieur Otto Kornei ein. Er kam aus Österreich und war nach dem „Anschluss“ an Deutschland emigriert. Der entscheidende Test fand am 22. Oktober 1938 statt. Kornei lud ein Zinkplättchen, das er mit Schwefel überzogen hatte, im Dunkeln elektrostatisch auf. Dann nahm er ein Glas mit der Aufschrift 10.-22.-38 ASTORIA und legte es aufs Plättchen.
Einige Sekunden lang beleuchtete er alles mit einer hellen Lampe. Danach legte Kornei das Glas beiseite und streute ein Pulver aus Bärlappsporen auf die Schwefelschicht. Deutlich zeichnete sich die Schrift ab, die sich leicht auf heißes Ölpapier übertragen ließ. Damit war das Prinzip der Trockenkopie bewiesen. Das Licht der Lampe machte den Schwefel leitend, und elektrische Ladungen verschwanden. An den unbeleuchteten Stellen unter 10.-22.-38 ASTORIA blieben sie erhalten: Dort setzten sich die Bärlappsporen ab.
Der Versuch von 1938 wurde in unserer Zeit im Film wiederholt. Am 4. April 1939 meldete Carlson ein Patent für „Electrophotography“ an; erteilt wurde es mit Nummer 2.297.691 am 6. Oktober 1942. Es schützt das geschilderte Experiment. Am 16. November 1940 folgte ein Antrag für einen „Electro-Photographic Apparatus“, das erste Kopiergerät. Das Patent wurde am 12. September 1944 unter Nummer 2.357.809 gewährt. Einen Monat später unterschrieb Carlson einen Vertrag mit dem Battelle Memorial Institute aus Ohio.
Die Forschungsstätte entwickelte seine Technik weiter, ab 1947 zusammen mit der Firma Haloid. Sie saß in Rochester im Staat New York und fertigte Fotopapier; darüber hinaus baute sie Geräte zum schnellen Fotokopieren. Technischer Direktor von Haloid war der 1905 in Aschaffenburg geborene und 1929 in die USA ausgewanderte Hans Dessauer. Am 22. Oktober 1948 stellte Haloid das neue Kopierverfahren auf einer Optik-Tagung in Detroit vor. Es trug den Namen Xerografie nach den griechischen Worten für trocken und schreiben.
Von der modernen Xerografie war es weit entfernt. Wer vor siebzig Jahren trockenkopierte, musste viel Handarbeit leisten und mit drei Geräten und einer Selenplatte umgehen. Der Halbleiter Selen hatte den von Carlson und Kornei benutzten Schwefel abgelöst. Auf dem Markt der Bürotechnik hatte die Xerografie noch keine Chance; Haloid glaubte aber daran und setzte sie in Druckereien und für Mikrofilm-Vergrößerungen ein. Und hinter den Kulissen arbeiteten Hans Dessauer und seine Kollegen am ersten funktionsfähigen Kopierer.
Der wurde am 16. September 1959 der Öffentlichkeit vorgestellt und ab 1960 an Kunden geliefert. Der gut ein Meter lange und ebenso hohe Xerox 914 war ein Wunder der Technik und läutete im Büro ein neues Zeitalter ein. Die Firma Haloid – ab 1961 hieß sie Xerox – und ihre Investoren verdienten viele Millionen. Auch Chester Carlson wurde reich. Er leistete sich aber nur einen bescheidenen Wohlstand und spendete den Großteil seines Vermögens für wissenschaftliche und soziale Zwecke. Er starb 1968 an einem Herzschlag.
Im Video sehen wir ihn noch einmal mit Hans Dessauer, der damals meist John genannt wurde. Unser Eingangsbild (Courtesy of Xerox Corporation) zeigt Carlson mit einer frühen Ausführung seines Kopierers. Hier geht es zu einem SPIEGEL-Artikel von 1959; er beschreibt die Xerografie beim Suchdienst des Roten Kreuzes. Bemerkenswert ist die Hervorhebung von Pál Selényi. Mehr zu ihm steht in diesem ungarischen Artikel, zu dem wir nicht viel sagen können. Hilfreich sind aber die Literaturhinweise am Schluss.
Spannende Story! Es ist wohl kaum zu ermessen, welche Wissensexplosion die Möglichkeit, Aufsätze und ganze Bücher zu kopieren gebracht hat.
Zu meiner Zeit hieß es an den Unis noch „Kopieren geht über studieren!“ und im Dunstkreis jeder Universität fanden sich zahlreiche kleine Kopierläden, in denen man auch seine schlecht und recht gebundenen Diplom- oder Magisterarbeiten vervielfältigen konnte.
Ein rundum gelungener Blog-Beitrag zur Erfindung und frühen Nutzung der Elektrofotografie / Xerografie und auch zu den Ursprüngen dieser wichtigen Erfindung. Die zahlreichen Links runden den gut aufbereiteten Inhalt des Beitrags perfekt ab. Besonders interessant: Der Haloid Xerox Prospekt stammt aus der Sammlung der Copy Art-Pionierin Sonia Sheridan! Schön: das Interview des eher als Publikums scheu geltenden Chester F. Carlson mit John H. Dessauer, dessen Buch „My Years with Xerox – The Billions that nobody wanted“ zwar nicht zu den allerbesten gehört (das ist die Biografie von David Owen), aber trotzdem empfehlenswert ist. Lediglich die Schilderungen des Films vom Smithsonian Channel sind einfach nicht überzeugend und stellenweise falsch.
Übrigens: Im Mülheimer Museum für Fotokopie kann man die manuell betriebenen Haloid XeroX Kopierer in Aktion erleben.