160 Jahre bewegte Bilder
Geschrieben am 05.02.2021 von HNF
Am 5. Februar 1861 erhielt der amerikanische Ingenieur Coleman Sellers ein Patent für ein Gerät, das räumliche Bilder von bewegten Objekten zeigte. Er nannte seine Erfindung Kinematoskop und baute auch ein Modell. Damit konnten Menschen zum ersten Mal das sehen, was wir einen Film nennen. In den 1890er-Jahren wurde das ganz ähnlich funktionierende Mutoskop erfunden.
Es ist ein bekanntes Phänomen: Eine Reihe von Bildern, die aufeinander folgende Ansichten eines bewegten Objekts enthalten, nehmen wir als fließenden Vorgang wahr. Die Forscher haben noch immer Mühe, den Prozess zu erklären, doch schon 1832 erschienen optische Spielzeuge, die ihn ausnutzten. Der belgische Mathematiker Joseph Plateau erfand das Phenakistiskop, sein österreichischer Kollege Simon Stampfer das baugleiche Stroboskop.
Die Geräte bestanden aus einer Scheibe, auf der die Phasen einer Animation – wir möchten einmal den modernen Ausdruck verwenden – aufgemalt waren. Zwischen den Bildern waren Sehschlitze ausgesägt. Die Scheibe konnte auf einer Achse gedreht werden. Wenn man sie vor einen Spiegel hielt und in Rotation versetzte, dann sah man durch die Schlitze und im Spiegel die Animation. Links und rechts davon erschienen die gleichen Bewegtbilder. Das Video zeigt es genau und außerdem das Zoetrop und das Praxinoskop.
Die Erfindungen gelangten auch in die USA. Im Februar 1861 steuerte das Land auf seine größte Krise zu. Sieben Bundesstaaten hatten sich von der Union gelöst, vier weitere sollten folgen, der Bürgerkrieg stand bevor. Noch herrschte aber Frieden, und ein Ingenieur im Nordstaat Pennsylvania erfand ein weiteres optisches Spielgerät. Am 5. Februar 1861 erhielt Coleman Sellers aus Philadelphia ein Patent für das „Darstellen von stereoskopischen Bildern von bewegten Objekten“.
Sellers wurde 1827 in Philadelphia geboren; schon sein Vater war Ingenieur. Er erhielt eine gute Ausbildung; ab 1846 arbeitete er in einem Walzwerk in Cincinnati. 1851 trat er eine neue Stelle an und baute Dampflokomotiven. 1856 wechselte er zu einer Maschinenfabrik in Philadelphia, die einem Vetter gehörte. Hier leitete er zunächst die Entwurfsabteilung; anschließend wurde er Chefingenieur. Er machte alle möglichen Erfindungen; so erdachte er 1857 eine neue Kupplung für Wellen. Daneben beschäftigte er sich mit der Fotografie.
Coleman Sellers kannte das Phenakistiskop, das in Amerika Phantasmaskop hieß. Im Jahr 1860 oder etwas früher kam er auf die Idee, die Phasen einer menschlichen Bewegung fotografisch zu erfassen. Das war technisch nicht einfach, Sellers gelang es aber, mehrere Bilder von seinen Söhnen aufzunehmen. Vermutlich benutzte er eine Kamera mit zwei Objektiven und zwei Fotoplatten, denn er machte 3D-Fotos. Der ältere Junge treibt einen Nagel ins Brett, der kleine Bruder schaut zu; ihre Geschichte wird in einem Buch erzählt.
Zum Anschauen der Fotos konstruierte Sellers ein Gerät, das er Kinematoskop nannte. Die Patentgrafik ist unten zu sehen. Man dreht die Achse, und ein Bildpaar nach dem anderen rückt auf den Stereobetrachter im oberen Teil zu. Für den Menschen dahinter verschmelzen die 3D-Fotos zu einer kurzen Szene, die sich laufend wiederholt. Ein YouTube-Produzent montierte sie zu einem Video; setzt man eine Rot-Grün-Brille auf, wirkt es räumlich. Die Patentgrafik legt nahe, dass Coleman Sellers ebenso an längere Bildfolgen dachte.
Sellers fotografierte auch seine Frau beim Stricken; so produzierte er die ersten lebenden Bilder der Welt. Sein Kinematoskop befindet sich heute im Franklin-Institut, einem Science Center und Wissenschaftsmuseum in Philadelphia. Zu Lebzeiten war Sellers mit ihm eng verbunden, und von 1870 bis 1875 bekleidete er den Posten des Präsidenten. Ab 1881 lehrte er dort Mechanik; eine zweite Professur erhielt er von einer technischen Hochschule in Hoboken bei New York. Er starb 1907 in seiner Geburtsstadt Philadelphia.
Allem Anschein nach war Coleman Sellers nicht der einzige Erfinder des Films. Am gleichen Tag wie das Kinematoskop gab es auch ein amerikanisches Patent für ein Stereoskop. Angemeldet hatte es Samuel Goodale aus Cincinnati. Ein Blick auf die Patentzeichnung – sie folgt weiter unten im Blogtext – beweist die Ähnlichkeit. Möglicherweise haben sich Sellers und Goodale in Cincinnati kennengelernt. Sellers lebte von 1846 bis 1856 in der Stadt, und neben seiner Arbeit hielt er Vorträge über wissenschaftliche und technische Themen.
Vielleicht auch über Stereoskopie und das Phantasmaskop? In seinem Text ging Goodale allerdings mit keinem Wort auf optische Effekte ein, und er könnte die Präsentation von unterschiedlichen 3D-Bildern gemeint haben. Die beiden Patente vom 5. Februar 1861 zählen dennoch zu den erstaunlichsten Doppel-Erfindungen der Technikgeschichte. Leider sind über Samuel Goodale nur wenige biografische Details bekannt. Einige trug der Blogger Gehio zusammen, der sich der Geschichte des US-Bundesstaats Ohio widmete.
Nach 1861 geriet das Kinematoskop in Vergessenheit. Die Grundidee finden wir aber 1868 im Kineograph von John Barnes Linnett wieder. Er war Drucker im englischen Birmingham. Bei uns hieß seine Erfindung Abblätterbuch, Taschenkino oder Daumenkino. In England nannte man sie „flicker book“, in Amerika „flip book“ und in Frankreich „folioscope“. Eine gute Übersicht bieten die Internetseiten Flipbook und Daumenkino-Freunde. Als Beispiel möge ein Werk von Filmemacher und Blättermeister Max Skladanowsky genügen.
Das Mutoskop ist ein mechanisches und vergrößertes Daumenkino; zugleich führt es zurück zum Kinematoskop von Coleman Sellers, jedoch ohne Stereobilder. Ein typisches Modell ist oben im Eingangsbild zu sehen (Foto Tekniska museet, CC BY 2.0 seitlich beschnitten). Die Zeichnung stammt aus einem deutschen Buch aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Achse dreht sich im Uhrzeigersinn; wenn man die Seitenwand hochklappt, fällt durchs Fenster Licht auf das aufgeblätterte Foto. Hier ist noch ein Artikel zum Thema von 1899.
Erfunden wurde das Gerät 1894 durch den amerikanischen Filmpionier Herman Casler. Im Inneren steckten rund 850 Einzelbilder, die den Betrachter eine Minute in Bann hielten. Die Mutoskope verbreiteten sich parallel zum Kino und eroberten Rummelplätze, Automaten-Hallen und englische Seebäder. Im 20. Jahrhundert zeigten sie meistens Produktionen für reifere Zuschauer. Um 1970 wurden sie größtenteils demontiert; Geräte mit jugendfreien Inhalten standen noch in den 1980er-Jahren im kalifornischen Disneyland. Und so endete nach über einem Jahrhundert die allererste Filmtechnik.