„Achtung Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin“
Geschrieben am 27.10.2023 von HNF
Vor hundert Jahren begann in Deutschland der offizielle Rundfunkbetrieb. Am 29. Oktober 1923 entstand im Berliner Vox-Haus ein Musikprogramm, das ein Sender auf der Mittelwelle in der Stadt ausstrahlte. Der Produzent des Programms war die 1922 gegründete Radio-Stunde AG, aus der 1924 die Funk-Stunde AG wurde. Der erste angemeldete Radiohörer war der Tabakwarenhändler Wilhelm Kollhoff.
„Nach langwierigen Vorbereitungen und Überwindung einiger Kompetenzstreitigkeiten ist gestern abend mit dem offiziellen Unterhaltungsrundfunk begonnen worden. Das gestrige Konzert galt zunächst auch nur einigen bevorzugten Deutschen und einer unberechenbaren Zahl ausländischer Hörer. Es gibt … noch keinen Menschen in Berlin mit einem rechtmäßig, das heißt postamtlich erworbenen Apparat. Dagegen wird es, wie auch in England, eine ganze Anzahl sogenannter Schleichhörer geben.“
So schrieb das Berliner Tageblatt am 30. Oktober 1923; der Artikel mit dem Titel „Rundfunk zur Unterhaltung“ ist die einzige Pressereaktion, die wir zum Start des deutschen Radios am 29. Oktober des Jahres fanden. Zwei Tage später stellte sich der erste legale Hörer ein. Es war Wilhelm Kollhoff, der in Berlin-Moabit einen Zigarrenladen besaß. Die Inflation erreichte gerade ihren Höhepunkt, und für die Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb eines Empfängers zahlte Kollhoff der Reichstelegraphenverwaltung 350 Milliarden Mark.
Die Gebühren lassen ein öffentlich-rechtliches Radio vermuten, doch begann vor hundert Jahren eher ein Privatfunk mit staatlicher Unterstützung. Hauptförderer war Hans Bredow, Staatssekretär im Reichspostministerium. Für das Programm sorgte die 1922 als Deutsche Stunde gegründete Radio-Stunde AG; ab Frühjahr 1924 hieß sie Funk-Stunde AG. Von 1926 an wurde sie von der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft und der Post kontrolliert. 1934 erhielt sie den Namen Reichssender Berlin. Der Sendeschluss kam im April 1945; später erfolgte in Ost und West ein Neuaufbau des deutschen Rundfunks.
Hinter der Radio-Stunde standen die Vox-Schallplatten- und Sprechmaschinen-AG in Berlin und der Unternehmer August Stauch, der durch Diamantenfunde in Namibia zum Millionär wurde. Die Zentrale der Firma war das Vox-Haus am Potsdamer Platz. Dort installierte das Telegraphentechnische Reichsamt im Oktober 1923 einen Mittelwellen-Sender sowie ein Aufnahmestudio. Mehr dazu steht im Rundfunkjahrbuch 1930 – bitte ab PDF-Seite 52 lesen – und auf dieser Internetseite. Sie bringt auch das Programm der ersten Sendung vom 29. Oktober 1923.
Sie startete um 20 Uhr mit den Worten „Achtung, Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin im Vox-Haus auf Welle 400 Meter“. Der Sprecher war Friedrich Georg Knöpfke, der Direktor der Radio-Stunde AG. Er teilte mit, dass „am heutigen Tage der Unterhaltungsrundfunkdienst mit Verbreitung von Musikvorführungen auf drahtlos-telefonischem Wege“ beginnen würde. Die Benutzung sei genehmigungspflichtig. Als erster Programmpunkt ertönte das Andantino des österreichischen Geigers und Komponisten Fritz Kreisler, gespielt vom Cellisten Otto Urack.
Es folgten elf Musik- oder Gesangsstücke, teils live dargebracht, teils von Schallplatten abgenommen. Die Arie das Manrico aus der Verdi-Oper „Der Troubadur“, vorgetragen vom Tenor Alfred Piccaver, könnte einer auf YouTube vorliegenden Aufnahme entsprechen. Den Schluss der Sendung bildete das Deutschlandlied, das ebenfalls auf Platte vorlag. Wohl 1926 wurde ein Film über den Betrieb im Vox-Haus gedreht. Wir treffen auch den Sprecher Alfred Braun und den Rundfunkpionier Graf von Arco sowie den neuen Berliner Funkturm.
Nach der Premiere stieg die Zahl des Rundfunkteilnehmer langsam an. Am 1. Januar 1924 gab es 1.580, am 1. März 7.342. Danach nahmen Sender außerhalb Berlins den Dienst auf, und die Gebühr – inzwischen war die Hyperinflation besiegt – wurde auf zwei Reichsmark festgesetzt. Am 1. Juli 1924 verteilten sich über Deutschland 99.011 Radiofreunde, zu denen wahrscheinlich noch die Familienmitglieder kamen. Am 4. Dezember 1924 öffnete die erste Berliner Funkausstellung, ein Jahr später gab es eine Million Hörer und Hörerinnen. Der Rest ist Radiogeschichte.
Die Politik dahinter schilderte Tina Kubot 2020 in einem Artikel; die Retro-Mediathek hält einen Beitrag zum Rundfunkstart in Hessen bereit. Im Foto unten sehen wir das Vox-Haus im Jahr 1964, aufgenommen von Rolf Goetze; im obersten Stockwerk befand sich einst das größte Studio. 1971 verschwand das Gebäude. Wir danken Robert Wein und der Fotothek vom Stadtmuseum Berlin für das Bild und die Erlaubnis, es in unserem Blog zu nutzen. Das Eingangsbild oben zeigt das Telefunken-Röhrenradio 33W von 1931, zum Hören benötigte man aber noch einen Kopfhörer oder einen zusätzlichen Lautsprecher.
Radiogeschichte ist etwas Gewaltiges, und das, was davon noch erlebbar ist, sollte unbedingt mehr gefördert werden. Im Museum am Funkerberg KönigsWusterhausen gibt es noch so etwas. Das Engagement der Mitarbeiter dort ist enorm.
Anläßlich des im Beitrag beschriebenen Jubiläums gibt es auf Kurzwelle am gleichen Tag eine Sondersendung, 29. Okt. 20:00. Näheres dazu, auch wie man das empfangen könnte, auf https://museum.funkerberg.de/weihnachtskonzert-2023/