Alan Turings Test – 70 Jahre Imitationsspiel
Geschrieben am 13.10.2020 von HNF
Im Oktober 1950 brachte die englische Philosophiezeitschrift „Mind“ einen Beitrag des Mathematikers Alan Turing. Er trug den Titel „Rechenanlagen und Intelligenz“ und stellte die Frage, ob Computer denken können. In seinem Aufsatz beschrieb Turing eine Prüfung ihrer geistigen Fähigkeiten. Dabei muss ein Mensch herausfinden, ob er mit einem anderen Menschen oder mit einer Maschine kommuniziert.
1950 lehrte der 38-jährige Alan Turing Mathematik an der Universität Manchester; außerdem war er stellvertretender Leiter des Computerlabors. Es verfügte über den Elektronenrechner Mark 1, der aus dem Manchester Baby von 1948 hervorgegangen war. Sein Londoner Projekt mit dem Computer ACE hatte Alan Turing hinter sich gelassen; seine Kryptologen-Tätigkeit in Bletchley Park musste er der Öffentlichkeit verschweigen.
1948 kam Norbert Wieners Buch Cybernetics heraus; seitdem sprachen die Experten über Automaten, Elektronenrechner und menschliche Gehirne. Im gleichen Jahr verfasste Turing einen Text über intelligente Maschinen, den er nicht publizierte. Am Ende skizzierte er ein Experiment: C spielt eine Schachpartie gegen A und eine zweite gegen B. B benutzt heimlich einen Algorithmus, die Papierversion eines Schachprogramms. Merkt C, dass er nicht gegen einen Menschen spielt? Turing meinte, dass C Mühe hätte, einen Unterschied festzustellen.
Das zitierte Experiment baute Alan Turing in einem philosophischen Aufsatz weiter aus. „Rechenanlagen und Intelligenz“ – im Original Computing Machinery and Intelligence – stand im Oktoberheft 1950 in der englischen Zeitschrift Mind. Der erste Satz findet sich oben in unserem Eingangsbild. Die Übersetzung „Kann eine Maschine denken?“ erschien im März 1967 in dem Magazin Kursbuch. Im Buchhandel erhältlich ist der Turing-Sammelband Intellicence Service; er enthält beide Texte auf Deutsch.
Die Schachpartien von 1948 verwandelten sich 1950 in das Imitationsspiel; es sollte das Denken einer Maschine, sprich eines Digitalrechners fassbar machen. Wir überspringen Turings Einführung und kommen gleich zur Versuchsanordnung. Ein Mensch kommuniziert per Fernschreiber parallel mit zwei Gesprächspartnern, er weiß nur, dass der eine ein Mensch und der andere ein Computer ist. Kann er durch geschicktes Fragen ermitteln, welcher Partner aus Fleisch und Blut und welcher aus Röhren und Transistoren besteht?
Turing nahm an, dass Computer im Jahr 2000 „das Imitationsspiel so vollendet spielen, daß die Chancen, nach einer fünfminütigen Fragezeit die richtige Identifizierung herauszufinden, für einen durchschnittlichen Fragesteller nicht höher als sieben zu zehn stehen.“ Die Frage, ob Maschinen denken können, hielt er für belanglos. Bis zur Jahrtausendwende würden sich aber der Sprachgebrauch und die öffentliche Meinung so weit entwickeln, dass man von denkenden Maschinen reden könnte, ohne Widerspruch zu ernten.
In seinem Artikel von 1950 befasste sich Alan Turing doch noch einmal mit dem Denken von Maschinen. Er analysierte neun mögliche Einwände gegen die Idee. Er widerlegte acht von ihnen; gelten ließ er allerdings das parapsychologische Argument. Demnach könnte ein Mensch im Imitationsspiel Beispiele von Hellsehen oder Gedankenübertragung geben, was einem Computer nicht möglich wäre. Als Ausweg fiel Turing nur ein telepathie-sicherer Raum für sein Spiel ein.
Der siebte und letzte Abschnitt des Artikels behandelte lernende Maschinen. Turing hielt es für sinnvoll, zuerst einen Computer mit der Intelligenz eines Kindes zu bauen und ihn dann zu trainieren. Auf diese Weise könnte er so schlau werden, dass er das Imitationsspiel erfolgreich absolviert. Alan Turing starb 1954 kurz vor seinem 42. Geburtstag. Das von ihm erfundene Prüfungsverfahren erhielt bald darauf den Namen Turing-Test. Bei uns ist der Ausdruck seit den 1970er-Jahren belegt, unter anderem im SPIEGEL.
Der „Mind“-Aufsatz von 1950 zählt zur theoretischen Basis der Künstlichen Intelligenz. Wäre es aber wirklich ein Beleg von Denken, wenn ein Computer den Turing-Test bestehen würde? Angesichts der Fortschritte im maschinellen Lernen und in der Sprachverarbeitung und wegen der immer noch wachsenden Leistung der Computer-Hardware könnte das in naher Zukunft passieren. Nehmen wir also an, dass am 100. Geburtstag des Imitationsspiels im Herbst 2050 eine Maschine die Äußerungen eines Menschen täuschend ähnlich nachahmt.
Daraus folgt jedoch nicht, dass sie denkt. Sprechen ist nicht dasselbe wie Denken, und die Dialoge, die Alan Turing vorschwebten, sind nur ein kleiner Teil der Kommunikation. Unsere Sprache entspringt unserer Welt, ihre Worte lernen wir in dieser Welt und in menschlicher Gemeinschaft durch Sinneseindrücke und Gefühlserlebnisse. Die Sprache ist vielfältig: Wir erzählen, klagen, schimpfen, loben und tadeln, danken und fluchen, reden und dichten. Darüber hinaus unterhalten wir uns mit künstlichen Systemen wie Alexa und Siri, doch den beiden bleibt verschlossen, wovon wir – und sie selbst – eigentlich sprechen.
Kurz, unsere geistige Tätigkeit lässt sich nicht imitieren, denn sie ist viel zu komplex. Niemand sah das so klar wie ein deutscher Kollege von Alan Turing, der Informatiker und Philosoph Joseph Weizenbaum. In dem Buch „Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft“ von 1976 schrieb er: „Was könnte offensichtlicher sein als die Tatsache, daß ein Computer über noch soviel Intelligenz verfügen kann, wie immer er diese erwirbt, sie muß zwangsläufig und immer gegenüber wirklich menschlichen Problemen absolut fremd sein.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
„ Demnach könnte ein Mensch im Imitationsspiel Beispiele von Hellsehen oder Gedankenübertragung geben, was einem Computer nicht möglich wäre“ – Der Satz ergibt irgendwie keinen Sinn. Ist hier gemeint, dass laut Turing einem Menschen im Imitationsspiel hellsehen oder Gedankenübertragung möglich wäre?
Turing hielt wohl parapsychologische Fähigkeiten bei Menschen für möglich. Im Text heißt es: „Wie gerne würden wir sie leugnen! Unglücklicherweise sind die statistischen Beweise, zumindest für Telepathie, überwältigend.“