Als die Rechenmaschinen rund waren
Geschrieben am 08.08.2017 von HNF
Im 17. Jahrhundert erfand der Gelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz die Rechenmaschine für die vier Grundrechenarten. Sie war länglich und eckig. 1774 vollendete der schwäbische Pfarrer Philipp Matthäus Hahn ein funktionsfähiges Modell, das rund war. 1784 führte der hessische Landbaumeister Johann Helfrich Müller eine ganz ähnliche Rechenmaschine vor. Später erstellte er mit ihrer Hilfe auch Rechentafeln.
Die Rechenmaschine für die vier Grundrechenarten, das ist bekannt, erfand das Universalgenie Gottfried Wilhelm Leibniz in den 1670er-Jahren. Im Laufe seines Lebens fertigte er mehrere Exemplare an oder ließ sie von geschickten Handwerkern bauen. Richtig funktioniert hat keines von ihnen. Die von Leibniz verwendete Staffelwalze, ein längliches Zahnrad mit unterschiedlich breiten Zähnen, ermöglichte aber später praktikable Geräte.
Die erste arbeitsfähige Rechenmaschine dieser Art stammt von dem schwäbischen Pfarrer Philipp Matthäus Hahn. Er wurde 1739 in Scharnhausen südöstlich von Stuttgart geboren und starb 1790 in Echterdingen. In den 1770er-Jahren lebte er in Kornwestheim. Neben seiner Gemeindearbeit konstruierte er Waagen, Uhren und Rechenmaschinen. Wie Hahn von den Staffelwalzen erfuhr, ist unbekannt. Wie wir aber im Blog erläuterten, wurden sie 1765 in einem Buch zur Universität Göttingen beschrieben; vielleicht las Hahn das Werk.
Seine „Rechnungmaschine“ lag 1774 vor. Sie war trommelförmig mit 26,5 Zentimetern Durchmesser und 11 Zentimetern Höhe. Die Staffelwalzen standen senkrecht im Kreis. Die Maschine hatte elf Stellen. Sie befindet sich heute im Württembergischen Landesmuseum in Stuttgart. Eine Maschine mit zwölf Stellen zeigt das Mannheimer Technoseum, eine weitere wurde im 2. Weltkrieg zerstört, zwei sind verschollen. Hahns Schwager Johann Christoph Schuster fertigte nach dem Hahnschen Vorbild ebenfalls drei Rechentrommeln an.
1778 erhielte Philipp Matthäus Hahn Besuch vom Darmstädter Schriftsteller Johann Heinrich Merck. Hahn zeigte ihm natürlich seine Rechenmaschinen – er hatte seit 1774 noch drei weitere gebaut. Merck war begeistert. Er versprach dem Pfarrer, dass er bei einer Vorstellung der Geräte in der Presse helfen würde. So geschah es: Hahn verfasste einen Aufsatz über seine Schöpfung. Merck sorgte dafür, dass er im Mai 1779 im Teutschen Merkur erschien, der wichtigsten Zeitschrift für die Gebildeten im Lande.
Im Artikel beschrieb Hahn die Bedienung der Maschine, schwieg sich aber über den inneren Aufbau aus. Fünf Jahre später erschien dann in Hessen ein neues Rechengerät, das dem von Hahn verblüffend ähnlich sah. Mit 28,5 Zentimetern Durchmessern war es ein wenig breiter als Hahns erste Maschine und mit 9,5 Zentimetern Höhe etwas flacher. Es nahm Eingaben mit 14 Stellen auf und rechnete mit Staffelwalzen. Sie standen aber nicht senkrecht wie bei Hahn, sondern gruppierten sich waagrecht um das Zentrum.
Das Gerät war die Rechenmaschine von Johann Helfrich Müller. Er war der Spross einer Baumeisterdynastie, die seit dem 17. Jahrhundert in der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt wirkte. Geboren wurde er 1746 in Kleve, wo sein Vater kurze Zeit in preußischen Diensten stand. Seit 1776 arbeitete Müller als Landbaumeister in Gießen. Hier las er den Aufsatz von Philipp Matthäus Hahn über sein Rechengerät. Auf anderem Weg erfuhr er wohl technische Details: Johann Heinrich Merck, der Hahn 1778 besuchte, war mit Müller befreundet.
Wir dürfen also annehmen, dass Müller nicht von alleine auf die Staffelwalzen kam. 1782 begann er jedenfalls mit der Entwicklung einer Maschine für die vier Rechenarten. Beim Bau unterstützten ihn zwei Uhrmachergesellen. Im Sommer 1783 kündigte er sie schon im Göttingischen Magazin der Wissenschaften und Litteratur an, ein Jahr später führte er sie dort vor. Am 24. Juni 1784 zeigte er die Rechenmaschine zuerst in kleinem Kreis, am 25. Juni in einer Sitzung der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften.
Die Präsentation war ein voller Erfolg. Im November des Jahres wurde Müller zum korrespondierenden Mitglied der Gesellschaft ernannt. 1786 verfasste er eine 50 Seiten lange Beschreibung seiner Rechenmaschine, die mit einem Vorwort und einem Bild in Frankfurt erschien. 1788 brachte er das erste Zahlenwerk zu Papier, das mit Hilfe einer mechanischen Rechenhilfe entstand: „Neue Tafeln welche den cubischen Gehalt und Werth des runden, beschlagenen und geschnittenen Bau- und Werkholzes, enthalten“
1790 zog Müller nach Darmstadt; 1810 wurde er in den erblichen Adelsstand erhoben. Er starb 1830. Seine Rechenmaschine hat ihn überlebt; sie befindet sich in Darmstadt im Hessischen Landesmuseum. Das HNF hat eine 1:1-Kopie der Maschine, allerdings nur von der Verkleidung und den Einstell- und Anzeigenrädchen. Sie ist auf dem Eingangsbild zu sehen (Foto: Jan Braun, HNF). Zurzeit steht die Replik in einer Ausstellung zum Physiker und Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg in Göttingen; er erlebte 1784 die Vorführung des Originals.
Zum Abschluss wollen wir noch eine zukunftsweisende Erfindung von Johann Helfrich (von) Müller erwähnen: die Differenzmaschine zur Berechnung von mathematischen Tafeln. Ein Versuchsmodell baute 1822 der Computervisionär Charles Babbage, eine Ausführung mit Druckwerk konstruierte 1843 der schwedische Ingenieur Edvard Scheutz. Die Idee für eine Differenzmaschine hatte jedoch schon Müller. Er deutete das Prinzip 1788 in seinem Buch an. In einen lauffähigen Rechner umgesetzt hat er es leider nicht.
Informativer Artikel, top geschrieben. wieder etwas dazu gelernt
Danke sehr!
georgchristoph lichtenberg on tour https://www.kulturreise-ideen.de/wissenschaft/personen-3/Tour-georg-christoph-lichtenberg-in-goettingen.html
Ich habe vor kurzem die Maschine im Landesmuseum Darmstadt gesehen und mich gefragt, wie sie funktioniert. Die Geschichte und die Beschreibung haben mich begeistert. Es war mir eine Freude, diesen Artikel zu lesen.