Computer fürs Geschäft
Geschrieben am 03.09.2021 von HNF
Deutsche gehen ins Café, Engländer in die Teestube. Eine landesweite Kette betrieb die Londoner Firma Lyons; dazu erzeugte sie Kuchen und Plätzchen. Ab 1949 entwickelte sie außerdem das Lyons Electronic Office oder LEO, ein Elektronengehirn mit 6.000 Röhren. Es berechnete am 5. September 1951 ein reguläres Programm. LEO war der erste Computer für geschäftliche Anwendungen.
Die ersten Elektronengehirne Europas arbeiteten in England. Im Jahr 1948 entstand das Manchester Baby, das in der Folgezeit zu einer größeren Anlage ausgebaut wurde. 1949 rechnete in der Universität Cambridge der EDSAC sein erstes Programm. Geschaffen hatten den Computer der Physiker Maurice Wilkes und seine Mitarbeiter.
Der EDSAC wurde natürlich von der Hochschule finanziert, doch kam zusätzliches Geld aus einer ungewöhnlichen Quelle, der J. Lyons & Co. Ltd. Die 1884 in London gegründete Firma war jedem Engländer bekannt. Ihre Teestuben verteilten sich über das ganze Land, darüber hinaus gehörten ihr Bäckereien, Restaurants und Hotels. 1938 übernahm Lyons eine große Plätzchen-Fabrik in Blackpool. Das Unternehmen beherrschte den britischen Fast-Food-Markt und richtete ebenso die königlichen Gartenpartys aus.
Lyons pflegte die moderne Betriebsführung und besaß ein Büro für Systemforschung; Leiter war der 1902 geborene Mathematiker John Simmons. 1947 sandte er zwei Mitarbeiter, Oliver Standingford und Raymond Thompson, in die USA, um die Bürotechnik zu begutachten. Sie trafen unter anderen Herman Goldstine, der an der Entwicklung des Computers ENIAC mitgewirkt hatte. Nach ihrer Rückkehr schrieben sie einen langen Bericht und empfahlen darin den Bau eines eigenen Computers.
Der Bericht erwähnte auch Maurice Wilkes und seine Tätigkeit in Cambridge. Die Folge war, dass John Simmons 2.500 Pfund in die Konstruktion des EDSAC steckte und einen Techniker zur Verfügung stellte. Im Gegenzug durfte die Firma Lyons die technischen Prinzipien des EDSAC in ihrem Rechner nutzen. Simmons bildete eine Gruppe von Entwicklern, die sich an die Arbeit machten. Ihr Chef war der Ingenieur John Pinkerton. Der Name des Rechners lautete Lyons Electronic Office, abgekürzt LEO.
Der Computer erhielt 6.000 Röhren und 64 mit Quecksilber gefüllte dünne Rohre, die als akustische Verzögerungsspeicher dienten – diese Elemente fanden sich bereits im EDVAC. Sie fassten insgesamt 2.048 Datenworte zu 35 Bit, was knapp neun Kilobyte entspricht. Die Taktrate betrug 500 Kilohertz; für die Ausführung eines Befehls brauchte LEO in der Regel anderthalb Millisekunden. Die Eingabe geschah über Lochstreifen- und Lochkartenleser, die Ausgabe übernahm eine Lochkarten-Tabelliermaschine. In unserem Eingangsbild (Foto LEO Computers Society) erkennt man hinten die Konsole mit den Oszillographen.
Am 15. Februar 1951 wurde der Rechner zum ersten Mal ernsthaft getestet. Anlass war eine prominente Besucherin: Kronprinzessin Elizabeth kam vorbei und schaute sich die Zentrale der J. Lyons & Co. Ltd. an. Dort stand auch LEO, der nahezu perfekt funktionierte und Ihre Königliche Hoheit schwer beeindruckte. Leider existieren keine Fotos von der Vorführung, überliefert sind nur das Bild der Kinderkutsche, die die Firma dem damals zwei Jahre alten Prinz Charles schenkte, und ein Schnappschuss aus der Lyons-Großbäckerei.
Das erste Programm geschäftlichen Inhalts führte LEO am 5. September 1951 aus. Am 30. November des Jahres übernahm er die Kalkulation der erwähnten Bäckerei. Anschließend wurde er für Lohnabrechnung, Inventarisierung und die tägliche Planung der Teestuben und Restaurants eingesetzt. Daneben führte der Computer Aufträge für externe Kunden aus; so ermittelte er Schusstafeln fürs Militär und fertigte Analysen für den Flugzeughersteller de Havilland an. Offiziell eingeweiht wurde LEO auf einer Party am 23. Dezember 1953. Am 16. Februar 1954 fand eine Pressevorführung statt.
Danach erschienen immer wieder Artikel in den englischen Zeitungen, dieser ist aus dem „Manchester Guardian“ vom September 1954. Die Journalisten begriffen, dass LEO etwas Neues brachte, nämlich Rechenleistungen fürs Geschäft. Computer in der Privatwirtschaft gab es schon, zum Beispiel die Zuse Z5, die 1953 die Firma Leitz in Wetzlar erwarb. Sie lösten meist Aufgaben aus Wissenschaft und Technik. Die Büroarbeit blieb eine Domäne des Menschen und von Schreib-, Rechen- und Buchungsmaschinen. Gelegentlich wurde dafür Lochkartentechnik eingesetzt.
Im Laufe der Zeit eroberte der Computer jedoch auch dieses Feld. Im November 1954 gründete Lyons eine Tochterfirma LEO Computers Ltd. Sie fertigte den Rechner LEO II, die Serienversion des ersten LEO; sie ist in einem Film aus dem Jahr 1957 zu sehen. In den frühen 1960er-Jahren entstand LEO III mit Transistoren. 1963 wurde die Firma von der English Electric Company übernommen; sie baute dann noch die Modelle LEO 360 und 326 und endete 1968 im ICL-Konzern. Der Ur-LEO arbeitete bis Januar 1965.
Die Erinnerung an ihn hält die LEO Computers Society wach; viele Dokumente zu seiner Geschichte verwahrt die Bibliothek der University of Warwick in Coventry. Sie lassen sich hier herunterladen; sehr informativ ist die LEO-Chronik von John Simmons. Außerdem gibt es die LEOPEDIA. Das deutsche Patent für LEO findet sich in der Datenbank des Münchner Patentamts. Über den Einsatz von Computern im Bürobereich schrieben früh der Physiker Vivian Bowden und der Informatiker Christopher Strachey – bitte zu PDF-Seite 6 gehen.
Professor Frank Land OBE half uns mit sachdienlichen Informationen; bei Peter Byford, dem Vorstand der LEO Computer Society, bedanken wir uns für die Fotos des Computers und die Erlaubnis, sie im Blog benutzen zu können. Wir verweisen zum Schluss noch auf den Vortrag von Peter Byford zur Geschichte der LEO-Familie. A great thanks to both of you.